Sonntag, 7. Dezember 2025, 17.30 bis 20 Uhr
FEMINIST PERSPECTIVES OF DISABILITY
PROGRAMM 7 | [RISING SOUND OF WIND RUSHING] – Deaf Gain als Neuorientierung der Sinne
Zwischen 2011 und 2013 wurden an mehreren High Schools in Los Angeles eine Reihe von Tubas gestohlen. The Tuba Thieves erzählt jedoch keine Geschichte über Diebe oder verschwundene Instrumente. Stattdessen fragt der Film: Was bedeutet es, zu hören? Was geschieht, wenn die tiefste Stimme einer Marching Band verstummt? Wie klingt Abwesenheit?
Das Langfilmdebüt der d/tauben Filmemacherin und Künstlerin Alison O’Daniel nimmt die Tuba-Diebstähle als Ausgangspunkt für eine radikal experimentelle Auseinandersetzung mit Klang, Musik und Sprache – und mit der Erkenntnis, dass Hören nicht notwendigerweise eine auditive Erfahrung ist. O’Daniel verbindet dokumentarische, narrative und essayistische Formen, verwebt Reenactments historischer Konzerte mit fiktionalisierten Porträts realer Personen und schafft ein cineastisches Porträt von Los Angeles, das so noch nie gesehen – oder gehört – wurde.
Die meisten Figuren werden von tauben Schauspieler*innen verkörpert, darunter Nyeisha "Nyke" Prince und Russell Harvard. Nyke spielt eine fiktionalisierte Version ihres eigenen Lebens: Sie ist taub, bekommt ein Schlagzeug und einen leeren Proberaum und sucht nach ihrer Beziehung zur Musik – gemeinsam mit ihrem hörenden Freund und ihrem hörenden Vater. In anderen Teilen der Stadt folgen wir Geovanny Marroquin, einem Saxophonisten an einer der Schulen, an denen Tubas gestohlen wurden. Wir sehen ihn bei Footballspielen auftreten, nachmittags mit Freund*innen abhängen. Seine Nachbarschaft ist erfüllt vom Lärm – und der Luftverschmutzung – des nahegelegenen Flughafens LAX. Kinder hüpfen auf einem Trampolin, während Untertitel [KIDS LAUGHING] und [RISING SOUND OF WIND RUSHING] zeigen. Ein anderer Schnitt führt von einem tauben Skateboarder zu einem Flugzeug, das über ihn hinwegfliegt, und zurück zu seinem Skateboard, das leere, klirrende Flaschen streift.
Diese Geschichten stehen in losen, peripheren Beziehungen zueinander – ebenso zu den Tuba-Diebstählen, die nur kurz nachgestellt werden und keineswegs das Zentrum des Films bilden. Im Vordergrund steht, was um sie herum geschieht, und was in ihrem realen und symbolischen Nachhall entsteht: eine Marching Band ohne Tubas, eine Klanglandschaft ohne ihre tiefste Frequenz. Der Film imaginiert das, was fehlt – und zeigt, dass Abwesenheit ebenso prägend sein kann wie Anwesenheit.
Zwischen diese dokumentarischen und semi-fiktionalen Stränge montiert O’Daniel Reenactments historischer Konzerte, in denen das Publikum Musik durch „Stille“ erlebte. Etwa John Cages legendäre Uraufführung von 4'33" im Jahr 1952, bei der ein Pianist viereinhalb Minuten lang am Klavier sitzt, ohne eine Note zu spielen – ein Stück, das man als „Tuba-Diebstahl“ lesen könnte, weil es Abwesenheit und enttäuschte Erwartung inszeniert. In O’Daniels Version verlässt ein frustrierter Zuschauer den Saal, geht in den Wald, zieht die Schuhe aus und ertastet die Blätter unter den Füßen. Die Szene ist sowohl komisch und befreiend – eine subtile Weigerung, Cages essentialistische Vorstellungen von Klang und Musik zu übernehmen, die die Geräuschkulisse des Theaters fetischisieren und taube Zuschauer*innen ausschließen.
Ein anderes Reenactment erinnert an die letzte Punk-Show im Deaf Club in San Francisco 1979, organisiert vom Künstler Bruce Conner, sowie an ein Gespräch mit den Organisator*innen eines kostenlosen Konzerts, das Prince während seiner Purple Rain-Tour an der Deaf University Gallaudet gab. Dazwischen stehen Schwarz-Weiß-Passagen visueller Poesie in Gebärdensprache, gestaltet von der Künstlerin Christine Sun Kim (die mit ihrem Film Closer Captions ebenfalls in diesem Programm vertreten ist).
O’Daniel erweitert die Funktion von Untertiteln weit über ein Werkzeug der Inklusion hinaus und verwandelt sie in ein zentrales narratives Element. Die Captions bilden eine dritte Erzählebene, gleichwertig zu Bild und Ton. Sie beschreiben nicht nur, was zu hören ist, sondern erschaffen eine eigene Sprache: „quiet air“ – eine Beschreibung von Klang, aber auch von Atmosphäre, Empfindung und gemeinsamer Präsenz. Shots von LED-Schildern vor High Schools, die zunächst wie bloße Establishing Shots wirken, tragen existenzielle Fragen oder Statements. So werden Open Captions zu einem eigenständigen erzählerischen Raum – nicht zu einem nachträglichen Zusatz.
Die filmische Sprache spiegelt die Erfahrung des Schwerhörig- oder Taubseins: überlappende Narrative, unkonventionelle Bildrahmungen, Captions, die ihre eigene Erzählung entwickeln. „The Tuba Thieves ist ein Film über das Zuhören, aber er ist nicht ans Ohr gebunden“, sagt O’Daniel. „Es ist ein Film über Deaf Gain, Hörverlust und die Wahrnehmung von Klang in Los Angeles.“
Bei den Screenings des Films – zunächst beim Sundance Film Festival 2023, anschließend bei MoMA’s Doc Fortnight, SFFILM und zahlreichen weiteren Festivals – wurden Ballons an das Publikum verteilt, um Vibrationen zu übertragen. Die Zuschauer*innen hielten diese Ballons, hielten buchstäblich den Atem an und „hörten“ den Film über das Gefühl: die vibrierenden Motoren der Flugzeuge, den rhythmischen Schlag des Schlagzeugs, die wogende Spannung von Wellen – und von Dingen, die wie Wellen klingen, Skateboardräder, Autobahnverkehr. Die im Film erfahrbaren Sinneserlebnisse dehnten sich in den Raum der Vorführung aus, wo taube und hörende, behinderte und nicht-behinderte Menschen gemeinsam Zeit und Raum teilten.
The Tuba Thieves ist eine audiovisuelle, beinahe anthropologische Studie – eine synästhetische Bewegung zwischen Bild und Klang, Stille und Dynamik. Der eigentliche Protagonist ist die Wahrnehmung selbst: wie Klang, Stille und ihre Abwesenheit unsere Sicht auf die Welt formen – abhängig davon, ob man hört, schwerhörig oder taub ist.
Im Anschluss:
Gespräch mit Alison O’Daniel (per Zoom, Gespräch auf Englisch, ÖGS)
Moderation: Constanze Ruhm
Der Eintritt zur der Veranstaltung und zum Screening ist frei, benötigt wird lediglich die Online-Anmeldung für ein Ticket. Registrieren Sie sich bitte für jene Slots, an denen Sie persönlich teilnehmen können. Das Ticket können Sie an der Kassa gegen ein Bändchen tauschen, das an dem Tag auch den kostenlosen Eintritt in alle Ausstellungen des mumok ermöglicht.
Die Organisatorinnen möchten mit dem freien Eintritt eine niederschwellige Teilnahme am Programm ermöglichen, bitten jedoch um eine freiwillige Spende für den organisatorischen Aufwand. Eine Spendenbox wird im mumok kino aufgestellt.