Sonntag, 7. Dezember 2025, 17.30 bis 20 Uhr
FEMINIST PERSPECTIVES OF DISABILITY
PROGRAMM 6 | IS THERE ANYBODY OUT THERE? Strukturen der Ausgrenzung, Solidarität jenseits der Norm
Ella Glendining wurde mit einer extrem seltenen Behinderung geboren: Sie hat keine Hüftgelenke und sehr kurze Oberschenkelknochen. So selten, dass sie nie jemanden mit einem Körper wie ihrem gesehen hat. Diese Erfahrung radikaler Einzigartigkeit führt zu einer existenziellen Frage: Gibt es da draußen irgendwen wie mich? Is There Anybody Out There? dokumentiert Ellas vierjährige globale Suche nach Menschen mit ähnlichen Körpern. Der Film wird zu einer Untersuchung darüber, was es bedeutet, sich selbst als behinderte Person in einer nicht-behinderten Welt radikal zu lieben, und zu einem Liebesbrief an die Disability Community.
Ella steht mitten im Leben, hat Humor,Tatoos, Piercings, einen Job und einen Partner – und ist stolz auf ihren Körper. Doch der Film zeigt auch die tägliche Diskriminierung: Lichtschalter zu hoch, Menschen starren, Arbeitgeber diskriminieren, Sprache verletzt. Während ihrer Suche trifft Ella andere Menschen mit seltenen Behinderungen und findet die Community, nach der sie gesucht hat. Zugleich dokumentiert der Film Ellas unerwartete Schwangerschaft und Mutterschaft – Erfahrungen, die in Medien praktisch unsichtbar sind.
"Ich wollte, dass dieser Film ein Schlachtruf für behinderte Menschen ist", sagt Ella. Er fordert fundamentale Fragen von Normkritik: Wer entscheidet, was ein "normaler" Körper ist? Wie macht die Konstruktion von "Normalität" Menschen unsichtbar? Die größte Barriere, so erzählt der Film, ist nicht der Körper, sondern die Welt, die diesen Körper als Problem definiert – also runter mit den Lichtschaltern! Is There Anybody Out There ist ein visuell beeindruckender, politisch radikaler und zutiefst persönlicher Film über die Suche nach Community als politischen Akt gegen strukturelle Ableismen und Einsamkeit.
Im Anschluss an die Projektion lädt das zweite Panel der Veranstaltung dazu ein, die im Film aufgeworfenen Fragen zu vertiefen und gemeinsam über Wege nachzudenken, strukturelle Ableismen nicht nur zu benennen, sondern aktiv abzubauen.
Der Film macht sichtbar, dass Ellas Suche deshalb so schwierig ist, weil die Barrieren, denen sie begegnet, auf mehreren Ebenen wirken. Da sind die physischen Barrieren – Lichtschalter zu hoch, Arbeitsplatten unerreichbar, öffentliche Räume nicht zugänglich. Dann die sozialen Barrieren – das Starren, die Diskriminierung durch Arbeitgeber, die verletzende Sprache. Weiter die epistemischen Barrieren – die fehlende Repräsentation in Medien, die fehlenden medizinischen Informationen über ihre seltene Bedingung, die fehlenden Vorbilder. Und schließlich die reproduktiven Barrieren – die Annahme, dass behinderte Menschen keine Eltern werden sollten oder können, die Unsichtbarkeit von Schwangerschaft und Mutterschaft als behinderte Person. Diese Barrieren wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig. Welche dieser Barrieren sind am schwierigsten zu überwinden? Wie hängen sie zusammen? Und wie können sie systematisch abgebaut werden – nicht durch individuelle Anpassung, sondern durch strukturelle Veränderung?
Ellas Erfahrung, medizinisch unsichtbar zu sein – es gibt kaum verlässliche Informationen über ihre Bedingung, keine Studien, keine etablierten Behandlungspfade – wirft grundlegende Fragen auf: Wer entscheidet eigentlich, was ein "normaler" Körper ist? Wessen Körper gilt als "Normalfall", nach dem Räume, Möbel, Arbeitsplätze, soziale Interaktionen gestaltet werden? Wie werden Menschen mit seltenen Behinderungen durch fehlende medizinische und soziale Anerkennung unsichtbar gemacht? Welche Rolle spielt medizinische Kategorisierung versus gelebte Erfahrung?
Die zentrale Frage des Films – "Is there anybody out there?" – ist für nicht-behinderte Menschen selbstverständlich zu bejahen: Ja, überall. Für Menschen mit seltenen Behinderungen kann die Antwort sein: Vielleicht nicht. Diese Einsamkeit ist nicht natürlich, sondern Produkt eines Systems der Ausgrenzung. Warum ist Community für behinderte Menschen überlebenswichtig? Was bedeutet "Kinship" – Verwandtschaft – jenseits biologischer Verbindungen? Wie findet man Gemeinschaft, wenn man möglicherweise "die Einzige" ist? Welche Rolle spielt das Internet bei der Community-Bildung? Der Film zeigt Momente tiefer Verbundenheit zwischen Ella und den Menschen, die sie trifft – besonders mit Priscilla Miranda, die sagt: "All die Dinge, die Ella teilt, sind die Dinge, die ich auch fühle, aber nicht unbedingt teile." Diese Momente machen deutlich: Solidarität entsteht nicht automatisch, sie muss hergestellt werden. Was bedeutet Solidarität zwischen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen? Gibt es eine gemeinsame "Disability Community" oder viele verschiedene? Wie können nicht-behinderte Menschen Verbündete sein, ohne zu vereinnahmen? Was ist der Unterschied zwischen Mitleid und Solidarität?
Ellas Weg zur radikalen Selbstliebe ist auch ein Kampf gegen internalisierten Ableismus – jene Momente, in denen sie selbst ihre Würdigkeit hinterfragt, sich fragt, ob sie genug ist. Der Film zeigt, wie Ableismus sich alltäglich manifestiert: in Blicken, in Sprache, in räumlichen Designs, in Annahmen darüber, was Menschen können oder nicht können. Wie erkennen wir Ableismus, wenn er subtil ist? Wie unterscheiden wir zwischen gut gemeinter "Hilfe" und paternalistischer Bevormundung? Was bedeutet "radikale Selbstliebe" als politischer Akt gegen internalisierte Abwertung? Und welche Rolle spielen Medien und Repräsentation dabei, Vorstellungen von "Normalität" zu verschieben?
Mit Ableismus ist ein komplexes System der Diskriminierung gemeint, das Menschen mit Behinderungen herabsetzt, ausschließt und benachteiligt. Architektonische, institutionelle, strukturelle und sprachliche Ableismen schaffen für Menschen, die den vorherrschenden Hierarchien der Fähigkeiten nicht entsprechen oder aus diesen Vorstellungen von „Norm“ herausfallen, Barrieren. Der Begriff Ableismus, der sich vom englischen Wort „able“ (fähig) ableitet, beschreibt dieses System der Einteilung und Bewertung von Fähigkeiten und den damit verbundenen Diskriminierungen, die Personen oder Gruppen erfahren, die Fähigkeitserwartungen nicht erfüllen. Für Menschen mit Behinderungen gehören Ableismus und die Ausschlüsse, Herabsetzungen sowie die Marginalisierung, die diese produzieren, zu unseren Alltagserfahrungen. Die Erforschung von Ableismus ist ein bedeutendes Feld innerhalb der Disability Studies, das sich kritisch mit diesen Hierarchien und Konstruktionen von Fähigkeit, die Gesellschaften hervorbringen, und mit der Analyse der komplexen Strukturen verinnerlichter Diskriminierungen befasst.
Im Rahmen des Festivals Feminist Perspectives of Disability beschäftigen sich Künstler*innen und Filmemacher*innen unter anderem mit spezifischen Ableismuserfahrungen und bringen diese durch situierte Sichtweisen zum Ausdruck. Sie schaffen Perspektivenwechsel, zeigen inklusive Wege auf, stellen Fähigkeitserwartungen in Frage und formulieren Institutionskritik. Im Panel sprechen Alejandro Bachmann, Eva Egermann und Michaela Joch über Ableismus im Kulturbetrieb, über mediale und filmische Repräsentation von Behinderung sowie über Fähigkeitserwartungen und die damit verbundenen Barrieren und Ausschlüsse an Hochschulen und in der akademischen Praxis.
Alejandro Bachmann ist Kulturarbeiter mit Schwerpunkten im Vermitteln von und Schreiben über Film sowie in der Zusammenstellung von Filmprogrammen mit Fokus auf dokumentarische und experimentelle Formen. 2010 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, später Leiter der Abteilung „Vermittlung, Forschung und Publikationen“ des Österreichischen Filmmuseums. Er ist seit 2023 Professor für Filmgeschichte und Filmtheorie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Dort entwickelt er gemeinsam mit Katja Lell das Projekt „All Disabled Selves“, eine Forschungsgruppe, die das Spannungsverhältnis von Ableismus und Kino auf theoretischer, struktureller und institutioneller Ebene untersucht.
Eva Egermann ist Künstlerin und lebt in Wien. In ihrer künstlerischen und textuellen Praxis befasst sie sich mit aktivistischen Bewegungen, Subkulturen verschiedener Zeiten und überarbeitet Kategorien und politische Bedingungen von Fähigkeit/Schwäche und nicht-konformen Körpern neu. Im Jahr 2012 hat sie das Zeitschriftenprojekt Crip Magazine ins Leben gerufen. Sie zeigt ihre Arbeiten weltweit in Ausstellungen, Festivals und hat mit ihrer künstlerischen Forschung an Konferenzen teilgenommen. Gemeinsam mit der Filmemacherin Cordula Thym produzierte Eva Egermann eine dokufiktionale Fernsehshow namens C-TV (Wenn ich Dir sage, ich habe Dich gern…), die auf repräsentationskritische und humoristische Weise eine Utopie einer inklusiven Film- und Medienwelt entwirft. 2023 erhielten die beiden dafür den Preis für Innovatives Kino der Diagonale.
Michaela Joch arbeitet an der Universität Wien im Bereich Inklusive Pädagogik und ist seit 2017 als freiberufliche Trainerin und Vortragende tätig (u. a. für myAbility). In ihrer Dissertation an der WU Wien erforschte sie die Zugänglichkeit österreichischer Universitäten und entwickelte daraus Perspektiven auf inklusive Arbeits-, Bildungs- und Gesellschaftsstrukturen.
Sie ist Mitglied des Monitoringausschusses zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und Mitgründerin des Kompetenzteams Frauen* mit Behinderungen (ÖBR). Ihre Erfahrungen prägen auch ihre künstlerische Praxis, in der sie sich mit Behinderung, Empowerment und gesellschaftlichem Wandel beschäftigt.
Im Anschluss:
Gespräch mit Ella Glendining (per Zoom, Gespräch auf Englisch, ÖGS)
Moderation: Alejandro Bachmann
Moderation: Bernd Oppl
mit
Alejandro Bachmann
Eva Egermann
Michaela Joch
(Gespräch auf Deutsch, ÖGS)
Der Eintritt zur der Veranstaltung und zum Screening ist frei, benötigt wird lediglich die Online-Anmeldung für ein Ticket. Registrieren Sie sich bitte für jene Slots, an denen Sie persönlich teilnehmen können. Das Ticket können Sie an der Kassa gegen ein Bändchen tauschen, das an dem Tag auch den kostenlosen Eintritt in alle Ausstellungen des mumok ermöglicht.
Die Organisatorinnen möchten mit dem freien Eintritt eine niederschwellige Teilnahme am Programm ermöglichen, bitten jedoch um eine freiwillige Spende für den organisatorischen Aufwand. Eine Spendenbox wird im mumok kino aufgestellt.