Samstag, 6. Dezember 2025, 18.30 bis 21.30 Uhr
FEMINIST PERSPECTIVES OF DISABILITY
Programm 4 | BEZIEHUNGSWEISE(N) I – Relating Otherwise
Wie gestalten sich intime Beziehungen jenseits normativer Vorstellungen? Welche Formen von Liebe, Begehren, Partnerschaft und Selbstverwirklichung werden möglich, wenn behinderte Menschen ihre Beziehungen selbst definieren? Das vierte Programm rückt Intimität, Sexualität und Selbstbestimmung ins Zentrum – nicht als Problemfelder, sondern als Orte der Freiheit und kreativer Neugestaltung.
Der Titel "Beziehungsweise(n)" spielt dabei bewusst mit Doppelbedeutungen: Es geht um Beziehungen und um die Weisen, in denen Menschen zueinander in Beziehung treten. Es geht um das "beziehungsweise" als verbindende Konjunktion und um die vielfältigen Weisen des Sich-Beziehens. Die beiden Filme zeigen Menschen, die sich weigern, ihre Leben nach den Erwartungen anderer zu gestalten – Menschen, die selbstbewusst ihre eigenen Wege gehen, eigene Beziehungsformen entwickeln und dabei die Grenzen dessen verschieben, was die Gesellschaft als "normal" oder "möglich" erachtet.
Sex Assistant von Andrés González Majul und Daniela Berlet ist ein radikaler Akt der Selbstoffenbarung. Das Paar aus Caracas, Venezuela, beide Rollstuhlnutzer*innen, dokumentiert über fünf Jahre hinweg ihre Suche nach Möglichkeiten, ihre sexuelle Beziehung zu leben. Der Film ist zugleich Liebesgeschichte, erotische Autobiografie und politisches Manifest. Er zeigt, wie sie verschiedene Formen der Assistenz ausprobieren – von einer Sexarbeiterin über eine Physiotherapeutin bis hin zur Künstlerin Desirée Chique –, um schließlich eine Form zu finden, die ihren Bedürfnissen entspricht. Dabei geht es nie um "Hilfe" im paternalistischen Sinne, sondern um selbstbestimmte Gestaltung von Intimität unter Bedingungen, die von der Gesellschaft nicht vorgesehen sind.
González Majul und Berlet wenden sich explizit sowohl gegen Mitleid als auch gegen Voyeurismus. Sie zeigen Nacktheit, Verletzlichkeit, Narben – um sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bleiben soll: dass körperliches Begehren vielfältig ist; und dass eigene Wege und Formen von Intimität zu finden eine Form ist, Zugehörigkeit zu erleben.
"Ich wollte die Geschichte nicht aus romantischer Perspektive erzählen", erklärt González Majul. Stattdessen suchte er nach einer ästhetischen, fotografischen Sensibilität, die der Komplexität ihrer Beziehung gerecht wird. Am Ende zeigt der Film, dass die schwierigsten Hürden nicht physisch, sondern gesellschaftlich sind – Tabus, konservative Familienstrukturen, die Vorstellung, dass behinderte Körper asexuell seien oder ihre Sexualität nur mit "Hilfe" leben könnten.
Evelyne Fayes Lass mich fliegen erweitert den Blick von der intimen Zweierbeziehung auf vielfältige Formen des Sich-in-Beziehung-Setzens: zu Partner*innen, zu Arbeit, zu politischem Engagement, zu Zukunftsträumen. Der Film begleitet vier Menschen mit Trisomie 21 durch ihren Alltag: Johanna und Raphael, die heiraten und Kinder bekommen wollen; Andrea, die eine feste Anstellung als Altenpflegerin sucht; Magdalena, die Gedichte schreibt und politisch aktiv ist. Sie alle verbindet der Wunsch, als Menschen mit einzigartiger Persönlichkeit wahrgenommen zu werden – nicht als Vertreter*innen einer Diagnose, sondern als "Universum mit unendlich vielen Möglichkeiten", wie Faye es am Ende ihrer Tochter Emma-Lou wünscht.
Faye entwickelt eine Ästhetik der Wertschätzung, die ihre Protagonist*innen in ihrem Tatendrang, ihrer Energie, ihrem Willen zur Selbstverwirklichung zeigt. Der Film macht deutlich sichtbar, welchen strukturellen Barrieren Menschen mit Trisomie 21 begegnen: Die Verweigerung des Rechts auf Arbeit, Ehe, Kinder, politische Mitsprache. Doch statt diese Barrieren in den Vordergrund zu stellen, zeigt Faye die Handlungsräume, die sich ihre Protagonist*innen erkämpfen – beim Tanzen in der Gruppe "ich bin o.k.", bei Vorträgen über Inklusion, im politischen Aktivismus gegen Diskriminierung.
Beide Filme folgen einem gemeinsamen Prinzip: Sie weigern sich, behinderte Menschen als Objekte des Mitleids oder der Fürsorge zu zeigen. Stattdessen fokussieren sie auf Agency, Selbstbestimmung, das Recht auf ein erfülltes Leben – auf Sexualität, Liebe, Partnerschaft, Familie, Arbeit, politische Teilhabe. Sie machen deutlich: Inklusion bedeutet nicht, Menschen in bestehende Strukturen zu integrieren, sondern anzuerkennen, dass es vielfältige Weisen gibt, Beziehungen zu gestalten, Intimität zu leben, Zukunft zu planen.
Was hier sichtbar wird, ist eine Politik der Beziehungen: die Forderung, dass behinderte Menschen selbst entscheiden, wie sie leben wollen – mit wem, auf welche Weise, unter welchen Bedingungen. Es geht nicht darum, zu zeigen, dass behinderte Menschen "auch" lieben, arbeiten, träumen können – als wäre das eine Ausnahme oder Überraschung. Es geht darum anzuerkennen, dass diese Selbstverständlichkeiten systematisch verweigert werden, und den Kampf um ihre Anerkennung sichtbar zu machen.
Sex Assistant macht dies durch radikale Intimität: indem das Paar die Kamera in ihr Schlafzimmer, ihre Beziehung, ihre Verletzlichkeit lässt. Lass mich fliegen macht dies durch Langzeitbeobachtung: indem Faye zeigt, wie ihre Protagonist*innen Tag für Tag, in kleinen und großen Gesten, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben einfordern.
"Beziehungsweise(n)" bedeutet: Es gibt nicht die eine richtige Art zu lieben, zu leben, in Beziehung zu sein. Es gibt vielfältige Weisen, und jede verdient Anerkennung, Respekt, Unterstützung. Das Programm schließt damit an die vorangegangenen Themen des Festivals an – Blicke und Gegenblicke, inklusive Filmpraxis, kreative Systeme des Zugangs – und fügt eine weitere Dimension hinzu: die Intimität als politisches Terrain, die Liebe als Ort des Widerstands, die Beziehung als Raum der Selbstbestimmung.
Sex Assistant (Andrés González Majul, VE 2019, 21 min) OmdU
Im Anschluss:
Gespräch mit Andrés González Majul (per Zoom, Gespräch auf Englisch, ÖGS)
Moderation: Anabel Rodriguez-Rios
Lass mich fliegen (Evelyne Faye, AT 2022, 80 min) OmdU (SDH, AD integriert)
Im Anschluss:
Gespräch mit Evelyne Faye und Darsteller*innen (Gespräch auf Deutsch, ÖGS)
Moderation: Anna Holl
Der Eintritt zur der Veranstaltung und zum Screening ist frei, benötigt wird lediglich die Online-Anmeldung für ein Ticket. Registrieren Sie sich bitte für jene Slots, an denen Sie persönlich teilnehmen können. Das Ticket können Sie an der Kassa gegen ein Bändchen tauschen, das an dem Tag auch den kostenlosen Eintritt in alle Ausstellungen des mumok ermöglicht.
Die Organisatorinnen möchten mit dem freien Eintritt eine niederschwellige Teilnahme am Programm ermöglichen, bitten jedoch um eine freiwillige Spende für den organisatorischen Aufwand. Eine Spendenbox wird im mumok kino aufgestellt.
Andrés González Majul und Daniela Berlet leben beide in Caracas, Venezuela, und kennen sich seit 1995, als sie im selben Physiotherapiezentrum trainierten. Beide benutzen einen Rollstuhl. 2012 beginnen sie eine Beziehung, teilen ihre künstlerischen Interessen und ihre Leidenschaft für audiovisuelle Medien. Doch in ihrem Bedürfnis, sexuelles Verlangen füreinander auszudrücken, stoßen sie auf Herausforderungen. Ihre Lösung ist radikal: Sie machen einen Film über ihre Suche nach Unterstützung für ihre sexuelle Beziehung – jenseits der Barrieren ihrer Rollstühle.
Sex Assistant ist ein dokumentarischer Liebesfilm, eine erotische Autobiografie und ein politisches Statement. Der Film, an dem die beiden fünf Jahre lang arbeiteten, dokumentiert ihren Weg durch verschiedene Formen der Assistenz: auf die Sexarbeiterin folgt eine Physiotherapeutin, die den Akt mechanisiert und zeitlich koordiniert. Schließlich finden sie mit Hilfe der venezolanischen Künstlerin Desirée Chique eine Form der sexuellen Assistenz, die ihren Bedürfnissen entspricht – und verbinden dabei Intimität mit künstlerischer Produktion.
Die Geschichte von Andrés und Daniela wollten sie nicht aus romantischer Perspektive erzählen - stattdessen suchten sie nach einer anderen ästhetischen, künstlerischen und fotografischen Sensibilität. Nacktheit, Verletzlichkeit, Intimität werden so als Teil einer selbstbestimmten Darstellung sichtbar gemacht. Der Film wendet sich sowohl gegen Mitleid als auch gegen Voyeurismus und insistiert stattdessen auf dem Recht behinderter Menschen auf Sexualität, Begehren und Lust.
Sex Assistant ist keine Lehrstunde und keine Anleitung, sondern vielmehr ein Akt der Selbstbefreiung, an dessen Ende eine Transformation steht. Der Film offenbart, dass die massivsten Hürden nicht die physischen sind, sondern vielmehr gesellschaftliche Tabus, konservative Familienstrukturen, die fehlende Sichtbarkeit behinderter Sexualität, die Vorstellung, dass behinderte Körper asexuell seien oder ihre Sexualität nur mit „Hilfe" leben könnten. Sex Assistant macht deutlich: Sexuelle Assistenz ist keine Pathologisierung, sondern kann eine Form der Selbstbestimmung sein – wenn sie auf den Bedürfnissen der Betroffenen basiert, nicht auf normativen Vorstellungen von „Normalität".
Lass mich fliegen begleitet vier junge Menschen durch den Alltag. Vier Menschen, die voller Leben sind und klare Ziele haben – Arbeit finden, politisch aktiv werden, heiraten, Kinder bekommen – für die das Erreichen dieser Ziele jedoch mit vielen Hindernissen verbunden ist und die von der Gesellschaft in eine Schublade gesteckt werden: Menschen mit Down-Syndrom.
Das Paar Raphael und Johanna ist Teil der Tanzgruppe “ich bin o.k.”, Raphael arbeitet als Kellner. Irgendwann einmal wollen sie heiraten und Kinder bekommen. Doch der Familienplanung stehen einige Hürden von außen im Weg.
Andrea ist Opernfan und schon lange auf der Suche nach einer festen Anstellung als Altenpflegerin, über Praktika hinaus hat es bislang aber noch nicht geklappt. Ihre Erfahrungen präsentiert sie mit viel Humor bei Vorträgen in ganz Deutschland. Und Magdalena schreibt Gedichte und ist politisch aktiv. Sie steht gern im Mittelpunkt: “Meine Eltern sagen, ich wäre eine Diva, eine Rampensau.”
Regisseurin Evelyne Faye begleitet sie alle mit der Kamera durch den Alltag – beim Kochen, Einkaufen und Wohnung putzen; beim Haare Stylen, in der Arbeit, beim Ausflüge machen und Tanzen. Statt Anerkennung ernten sie aber oft mitleidige Blicke und Betroffenheit. Ihr Anspruch aber ist es, inkludiert zu werden, als Menschen mit Rechten gesehen zu werden – und vor allem auch mit Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen.
“Ich wünsche dir, so wie jedem Menschen, als ein Universum mit unendlich vielen Möglichkeiten betrachtet zu werden”, sagt Evelyne Faye am Ende des Films zu ihrer Tochter Emma-Lou, bei der ebenfalls Trisomie 21 diagnostiziert worden ist. Wie das mit viel Selbstbewusstsein und Einsatz gehen kann, zeigen die Menschen in diesem Film.