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mumok insider | 14.12.2022
Von der Autonomie hin zu geteilten Situationen | Interview mit Karin Harrasser
Kulturwissenschafterin Karin Harrasser hat gemeinsam mit mumok Kurator Franz Thalmair das Symposium Die Stärken der Schwäche gestaltet, das im Rahmen der Ausstellung mixed up with others before we even begin stattfindet. Im Vorfeld hat Franz Thalmair Karin Harrasser zum Gespräch gebeten.
Franz Thalmair: Wie schwach muss man sein, damit Schwäche zur Stärke wird?
Karin Harrasser: Ich glaube nicht, dass ein quantifizierendes Vorgehen mit Blick auf die Schwäche sinnvoll ist, also die Frage danach, wieviel oder wie wenig. Es geht eher darum, gemeinsam zu erforschen, was die Konsequenzen daraus sind, dass wir alle verletzlich und sterblich sind. Das allerwichtigste wäre in meinen Augen, Schwäche zu einem politischen Thema zu machen; wegzukommen von Autonomie, Freiheit und Selbstverwirklichung als politische Tugenden und Leitideen, hin zu geteilten Situationen, in denen wir alle aufeinander angewiesen sind. Die politische oder soziale Folge des Nachdenkens über Schwäche ist die Einsicht, dass man bestimmte Dinge nur gemeinsam kann und dass man voneinander abhängig ist.
Franz Thalmair: Würde man ein „Zeitalter der Schwäche“ formulieren, wäre dieses feministisch, queer und indigen. Warum sind diese Attribute gerade so stark?
Karin Harrasser: Historisch betrachtet ist klar, dass das drei Menschengruppen sind, denen zugeschrieben wurde, das Ideal der Autonomie nicht ganz zu erfüllen. Das gilt für viele indigene Kulturen, die in Hinblick auf Modernität als defizitär eingestuft wurden, das gilt für Frauen, für Kinder, aber auch für Menschen, die sich bezüglich Geschlecht im Dazwischen bewegen. Deshalb haben diese Gruppen einen anderen Umgang mit den Idealisierungen von Autonomie entwickelt. Das hat Potenzial, wenn man es politisch rahmt, da geteilte Sterblichkeit Solidarität erzeugen kann.
Franz Thalmair: Kann man ein solches Potenzial des Schwachen und des Defizitären als Empowerment beschreiben, durch das man sich aus der vermeintlich inferioren Position herausbewegt?
Karin Harrasser: Es geht nicht um eine christliche Ethik der Demut im Stil von „Wir sind alle sterblich“, es geht eher um ein inklusives Programm, das sagt „Wir brauchen einander“. Das muss die Grundlage für eine neue Politik sein. Ja, Empowerment – deshalb auch die Stärke der Schwäche. Das ist etwas, das uns als globale Gesellschaft potenziell zusammenhalten kann.
Franz Thalmair: Wenn Du den Begriff „Kontamination“ hörst, ruft das bei Dir eher negative oder positive Assoziationen hervor?
Karin Harrasser: Wie alle interessanten kulturtheoretischen Begriffe ist „Kontamination“ ambivalent und kann in beide Richtungen gehen: Er kann einerseits Gewalt thematisieren. Kontamination zeigt etwa an, dass Lebenszusammenhänge durch Verschmutzungsvorgänge über einen langen Zeitraum und sehr unauffällig zerstört werden. Es gibt ein tolles Buch von Rob Nixon, der von Slow Violence and the Environmentalism of the Poor spricht – eine langsame Gewalt, die sich in alles einspeist. Um die Langzeitwirkung von dieser Form von Gewalt und das Toxische darin zu beschreiben, ist Kontamination ein wichtiger Begriff mit einer starken analytischen Qualität. Positiv gewendet kann die Kontamination in Richtung Hybridisierungen gehen, die ein wichtiger Teil von jedem Kulturprozess sind. Da wird Kontamination zu einem Mechanismus, um nicht in einer Monokultur stecken zu bleiben, um nicht im Immergleichen aufzugehen, um sich infizieren zu lassen und um neue Informationen und ästhetische Formen aufzunehmen und zu entwickeln. Aufgrund dieser Ambivalenz ist Kontamination ein sehr brauchbarer Begriff.
Franz Thalmair: Und wie schätzt Du parallel dazu „Kollaboration“ ein? Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing schreibt in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt recht plastisch „Ohne Kollaboration sterben wir alle.“ Stimmst Du ihr zu?
Karin Harrasser: Die Kollaboration als Begriff enthält das Lateinische „laborare“, das Arbeiten. Da ist man dann im Tun, auch im intentionalen Tun. Das Zusammenarbeiten ist eine ganz wichtige Angelegenheit. Kontamination impliziert eine andere Form der Wirksamkeit als Kollaboration, zweitere ist stärker an geteilte Absichten gebunden. Im deutschsprachigen Zusammenhang muss man allerdings dazu sagen, dass die Kollaboration seit dem Nationalsozialismus auch einen negativen Beigeschmack hat. „Kollaborateure“ haben aus guten Gründen keinen sonderlich guten Ruf und das macht den Begriff im Deutschen politisch wackelig. Im anglophonen Sprachraum ist diese Nebenbedeutung nicht so gut hörbar.
Franz Thalmair: Unsere Beziehungen – zwischen Menschen, zur Umwelt, Lieferketten, digitale Netzwerke – haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert, oder anders formuliert hat das, was bereits in Veränderung begriffen war, einen ordentlichen Schub bekommen: Gibt es deshalb so viel Diskurs über das Miteinander?
Karin Harrasser: Ja, vermutlich hat die Pandemie einiges zutage gefördert – aber eher kontraintuitiv. Wir haben den Wert des Gemeinsamen in dem Moment erkannt, in dem das Gemeinsame nur noch schwer möglich war. Gerade im ersten Lockdown sind alle unsere alltäglichen Routinen des Zusammenarbeitens zusammengebrochen und wir haben uns ganz schnell neue Formen des Kollaborierens gebastelt. Ich denke, dass sich in dem Moment, wo soziale Formen wegbrechen, die Aufmerksamkeit für ebendiese geschärft werden. Das hat uns – unfreiwilligerweise – in ein präziseres Nachdenken darüber hineingestoßen, wie wir denn überhaupt zusammenarbeiten.
Franz Thalmair: Im Moment wird viel über Beziehungen zwischen den Menschlichen und den Nicht-Menschlichen (oder besser: Mehr-als-Menschlichen) gesprochen – in der Philosophie, in der Kunst, aber auch in Naturwissenschaften, etwa dort, wo sich die Medizin mit den Bakterien beschäftigt, die mit uns auf unseren Körpern leben. Sind das Modeerscheinungen oder Zeichen für eine Veränderung in der Gesellschaft?
Karin Harrasser: Ich würde in diesem Fall noch radikaler formulieren: Wir haben diese realen Beziehungen zwischen allen möglichen Entitäten längerer Zeit erfolgreich ignoriert. Im Grunde muss man sich rückblickend wundern, wie es die Moderne geschafft hat, all diese Beziehungen als nicht existent hinzustellen. Jetzt geht es darum, etwas wiederzuentdecken, was völlig selbstverständlich ist. Das ist eigentlich alles nicht so kompliziert: Dass beispielsweise Wetterverhältnisse auf das Wachstum und damit auf die globale Ernährungssituation einwirken, ist völlig klar. Wir haben uns – mit „uns“ spreche ich von der westlichen Moderne – nur seltsamerweise lange Zeit von all diesen Interdependenzen abgeschnitten. Wir haben geglaubt, dass wir uns über industrielle und technische Verfahren von dieser Eingebundenheit in naturkulturelle Prozesse befreien können, dass wir sie kontrollieren können.
Franz Thalmair: Gibt es deshalb beispielsweise auch ein verstärktes Interesse an indigenen Kosmologien – an Weltmodellen aus allen Himmelsrichtungen?
Karin Harrasser: Ich finde es wichtig, dass indigene Kosmologien wiederaufgegriffen werden und dass Interesse von Seiten des Westens dafür besteht, aber oft hat das auch etwas von einer romantischen oder nostalgischen Geste. Deshalb wäre ich dafür, in die europäische Vergangenheit zu schauen. Da braucht man gar nicht so weit zurückzugehen, um zu bemerken, dass es sehr umfassende Modelle der Interaktion in Naturkulturen gegeben hat. Selbst bei Alexander von Humboldt ist es noch da – auch ein ganzheitliches Verständnis des Zusammenwirkens von Mensch und Umwelt. Er sprach von einem Lebensnetz, in dem alles miteinander interagiert. Das ist nicht einmal zweihundert Jahre her. Das muss man sich vor Augen führen.
Franz Thalmair: Hat das mit der Idee von Reinheit zu tun? Sind Säuberungsprozesse dafür verantwortlich, dass die Verbindungslinien verschwunden oder zumindest nicht mehr sichtbar sind?
Karin Harrasser: In Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie wird der Vorgang „Reinigungsarbeit“ genannt: Die Wissenschaften vermischen eigentlich andauernd: Beobachtungsinstrumente, Forschungsgegenstände, menschliche Welten, aber oft wird am Ende eine vermeintlich klare Trennlinie gezogen zwischen den passiven Objekten der Forschung und den aktiven Forschenden. Aus einer feministischen Perspektive würde ich das sogar noch weitertreiben: Es geht nicht nur um Reinigung, sondern um Kontrolle. Was hinter diesem intellektuellen Kappen von ganz evidenten Abhängigkeiten steht, ist etwa der Wunsch, autonom von Wetterverhältnissen und Wachstumszyklen zu sein. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird die Diskussion noch interessanter, weil das Thema Kontrolle sofort die Machtfrage stellt. Wir wollen alle ein bisschen Kontrolle haben, das ist ja völlig in Ordnung. Jede agrikulturelle Vorgangsweise versucht bestimmte Parameter zu kontrollieren. Nur ist das in der westlichen Moderne sehr weit getrieben worden und dieser absolute Wille zur Kontrolle hat das Wissen über die Interdependenzen verschüttet. Das ist die Bruchkante, die uns jetzt beschäftigt.
Franz Thalmair: Kann man sagen, dass Reinheit ein politisches Kontrollinstrument ist, das auch in den Künsten ihre Blüten treibt – man denke an Clement Greenberg?
Karin Harrasser: Das Schwierigste in diesem Zusammenhang ist, wie man das Projekt des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit rettet, wie es so schön in der Aufklärung heißt, ohne eine Idealisierung oder gar Ideologisierung von Autonomie weiterzutreiben. Das betrifft natürlich auch die Künste: Clement Greenberg und der Abstrakte Expressionismus sind Ausdruck einer extrem verstandenen Kunstautonomie. Diese Form von Autonomie lässt sich als Konsequenz der Herauslösung von Kunst aus Auftragsverhältnissen und dem Mäzenatentum verstehen, in die man natürlich nicht wieder zurück will. Wir brauchen eine Revision der Idee von Kunstautonomie. Ich glaube, die Autonomie der Kunst ist zu retten, wenn man sie als „in Relation“ oder „in Interaktion“ begreift.
Franz Thalmair: Hat dieses In-Relation- oder In-Interaktion-Sein mit Donna Haraways Idee von „Situiertheit“ zu tun?
Karin Harrasser: Situiert im Verständnis von Donna Haraway bedeutet, die Verankerung der eigenen Positionierung in eine Spannung zu bringen mit generelleren Interessen, mit Ansprüchen auf Wissen, mit Vergleichbarkeiten. Es geht um die Spannung zwischen den Möglichkeiten des Intersubjektiven, auch des intersubjektiven Teilens von Wissen und der eigenen Positionierung. Es wäre ein Missverständnis, daraus eine partikularistische Position abzuleiten, die behauptet, dass individuelle Erfahrung Priorität über das Allgemeine hat. Das funktioniert nur in der Spannung, in einer gespannten Relation. Deshalb betont Donna Haraway immer wieder ihr Programm von „strong objectivity“. Dabei handelt es sich um die Suche nach Wissen und Objektivität, ohne die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Wissens aus dem Blick zu verlieren. Diese Art von Objektivität, so Haraway, ist stärker, gerade weil sie ihre eigenen Voraussetzungen mitdenkt.
Franz Thalmair: Im Projekt Stay in Touch, das Du während des ersten Lockdowns an der Kunstuni Linz gestartet hast, beschäftigst Du Dich gemeinsam mit anderen Kulturwissenschafter*innen mit Texten über Krankheiten, Seuchen, Fremdkörper, Immunität oder Reinheit aus den vergangenen 2500 Jahren. Was sagt einem die Geschichte über die Kontamination?
Karin Harrasser: Das eine ist einmal Erstaunen. Man liest einen Text von Thukydides aus dem Jahr 430 vor Christus über „Die Seuche von Athen“ und schlackert mit den Ohren, weil sich schon so viele der Themen auftun, die uns gerade im ersten Lockdown beschäftigt haben. Mit Erstaunen in die Vergangenheit zu blicken und zu bemerken, dass wir nicht die ersten sind, die sich in dieser besonderen Situation befinden, kann eine ganz grundlegende Erfahrung von Solidarität mit etwas ganz Fremden auslösen, die ich persönlich sehr wichtig finde. Mit den Athener*innen haben wir vielleicht sonst nicht soviel gemein, aber da gibt es plötzlich eine geteilte Erfahrung.
Das zweite, was man durch den Blick in die Vergangenheit mitnehmen kann, ist, vielleicht doch ein paar Fehler nicht noch einmal machen zu müssen. Ich habe keine besonders idealistische Idee von „Wir schauen in die Vergangenheit und lernen für die Zukunft“, aber hin und wieder sieht man vielleicht eine Abzweigung, die man nicht schon wieder gehen muss.
Franz Thalmair: Der Untertitel unseres Symposiums lautet Gesellschaften in unruhigen Zeiten. Was bedeutet „Unruhe“ in diesem Zusammenhang?
Karin Harrasser: Die Unruhe ist für mich, was in einer Uhr den Mechanismus antreibt.
Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft und Vizerektorin für Forschung an der Kunstuniversität Linz sowie Kodirektorin des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Im Zentrum ihrer wissenschaftlichen Arbeit stehen die asymmetrischen Kulturtransfers zwischen Europa und Südamerika und das Verhältnis von Globalisierung und Zeitgeschichte. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Körper-, Selbst- und Medientechniken, Prozesse der Verzeitlichung, Theorien des Subjekts / der Objekte, Populärkultur / Science-Fiction, Genres und Methoden der Kulturwissenschaft, Geschlecht und agency. Neben ihren wissenschaftlichen Tätigkeiten war Karin Harrasser an verschiedenen künstlerischen und kuratorischen Projekten beteiligt. Sie ist Übersetzerin von Donna Haraways Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (Campus, 2018).