
© Dorothea Brunialti
© Dorothea Brunialti
Die Vordemberge-Gildewart-Stiftung vergibt 2022 gemeinsam mit dem mumok ein hochdotiertes Stipendium für Kunstschaffende bis 35 Jahre. Die Stiftung mit Sitz in der Schweiz hat das Ziel, das künstlerische Werk von Friedrich Vordemberge-Gildewart zu erhalten und in seinem Sinne junge bildende Künstler*innen und Kunstschriftsteller*innen zu fördern. Die Werke der Nominierten sind bis 21. August im mumok zu sehen. In einer vierteiligen Serie stellen wir Ihnen die Nominierten und ihre Arbeiten auch auf unserem Blog vor.
Rehema Chachage, Notes on the paper (Excerpts from processes of writing with Bibi Mkunde), 2021–2022, Installation, Papier, Ruß, Duft, Video, Ton, Steine, Holz
Wir beginnen mit dem Aufruf, zusammenzukommen, zu Momenten und Situationen, die wir teilen können, in bestimmten häuslichen Räumen und zu bestimmten Ritualen. Keine von uns musste diesen Ruf starten. Wir hatten immer schon ein offenes Ohr für ihn, instinktiv, und als wir ihn hörten, wussten wir schon immer, wann und wie wir antworten würden. Das war unser Alltagsritual zum Aufrechterhalten der Bindungen innerhalb der Familie und innerhalb der Gemeinschaft. Hier sind wir also. Drei Generationen von Frauen, im weiteren Sinne eine ganze matrilineare Genealogie, und antworten dem Ruf.
Wir versammeln uns hier, nicht um Fragen zu stellen oder „ein Objekt oder ein Subjekt zu bestimmen“… „nicht um ein Gebiet oder Feld abzustecken“… „nicht um Grenzen von Objekten und Szenen und Situationen und Archiven zu bestimmen und nicht einmal um Grenzen zwischen Feldern und Disziplinen zu überschreiten“… Stattdessen kommen wir zusammen, um „neugierig zu sein“… „Erstaunen zu teilen"… „über Mögliches nachzusinnen“… und „der Großzügigkeit des Rufs“ zu folgen (Macharia, 2020).
Unsere kreativen „Angebote“ erstrecken sich über verschiedene Medien und versammeln unsere Stimmen zu einem Chor, der aus unseren Gesprächen zu Autonomie, Gedächtnis und Geschichte hervorgeht. Manchmal wendet sich unser Chor schwierigen/problematischen Geschichten zu; doch wir lehnen es ab, das gesamte Gespräch in diese Problematiken einzufassen. Die Geschichtsschreibung hat das oftmals bereits getan. Stattdessen navigieren wir auf der anderen Seite der Meerenge, erkunden „andere“ Geschichten und die vielen „Möglichkeiten“, die uns in den seltenen, aber ganz besonderen Momenten der Familienzusammenkunft begegnen.
Inspiriert von K’eguro Macharias Überlegungen zur Methode des Zusammenkommens und zum Versammeln als Methode entwickeln sich unsere kreativen „Angebote“ durch Prozesse, die Zusammensein als Methode und These nutzen. Bei der Bildung des Chors und des Rufs, im Chor zusammenzukommen, wird vieles hinterfragt …
Hier gibt es keine Dualität von Forscher*in und Gegenstand…
… keine Grenze, die markiert, wo eine Stimme endet und eine andere beginnt …
… und keine Versuche der Hypertheorisierung, Hyperkontextualisierung und/oder Hyperhypothetisierung.
Hier gibt es nur den Prozess, „der Großzügigkeit des Rufs“ zu folgen … und im Gegenzug „ähnlich großzügige Aufrufe zu starten“ (Macharia, 2020).
Wir versammeln uns,
Gemeinsam versammeln wir uns!
Ilkin Beste Çirak + Nigel Gavus, It's on a day like this..., 2021, 16-mm-Film transferiert auf Video, Farbe, Ton, 16 min, Courtesy: Ilkin Beste Çirak + Nigel Gavus, Photo: Klaus Pichler, © mumok
Aus unterschiedlichen Hintergründen kommend und derzeit als Künstler*innenduo tätig, suchen İlkin Beste Çırak und Nigel Gavus eine Synthese verschiedener Medien: Film, Poesie, Literatur, Skulptur und Raum sind ihre Erkundungsfelder, ihre Arbeit ist klar strukturiert und vielschichtig. Ihr gemeinsames Ziel ist es, unsichtbare Themen in eine visuelle Sprache zu übersetzen und die Rolle visueller „Codes“ in unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Ihre Zusammenarbeit thematisiert Identität und Zugehörigkeit sowie Raumgestaltung in der Art der relationalen Kunst und Ästhetik.
Ihre erste filmische Kollaboration Letters from a Window (2020) ist weit mehr als ein künstlerischer Kommentar zur Covid-19-Pandemie, also kein „Anlassfilm“. Eine Frau blickt aus einer (hoffentlich) nicht allzu weit entfernten Zukunft zurück. Die Blickperspektive auf Menschen, Orte und Objekte wechselt ständig. Auf der Tonebene hört man eine warme, unaufgeregte Frauenstimme, die in einem kontinuierlichen Redefluss liebevoll und sehnsüchtig eine oder einen N. adressiert. Sie bezieht sich direkt auf die Bilder, als könnte sie diese aus dem filmischen Fenster sehen, während sie spricht. Wir befinden uns in ihrem Kopf, in ihrer fiktiven Gegenwart. Ein kurzer, langer Film auch über die Zeit. (Birgit Flos)
Die zweite filmische Arbeit It’s on a day like this … (2021), ein digitalisierter 16-mm-Film, zeichnet das Porträt einer jungen Frau, die ihre Tage damit verbringt, sich durch Schlaf von der Realität zu befreien. Sie erschafft sich ihr eigenes Reich der Unwirklichkeit aus der Beschäftigung mit den sie umgebenden Dingen und Objekten. Der essayistische Film thematisiert das Gefühl von innerer Isolation und hält das Bild einer einsamen und passiven Rebellion gegen die Aussichtslosigkeit der eigenen Welt fest.
Lukas Gritzner, Night skies and city gardens, 2022, Blumen, gefliester Sockel, Poster, Ton, Vorhang, Courtesy: Lukas Gritzner, Photo: Klaus Pichler © mumok
Night skies and city gardens, 2022
left objects, used condoms,
dirty paper towels
it’s a rainy day in April
one of the few this year
and I don’t know what I am
looking for
some danger
a glimpse moment of tenderness
a hot fuck
a cold shoulder
right in these artificial gardens
Night skies and city gardens ist eine bühnen-artige Multi media installation, die aus Arrangements von Blumen besteht, die an verschiedenen Cruising Spaces in Wien gesammelt und um einen gefliesten Sockel angeordnet wurden. Sorgfältig von einem transparenten Vorhang verhangen, ist das, was gezeigt wird, immer auch versteckt und umgekehrt. Die Arbeit schafft eine dystopische und doch romantische Kulisse im Ausstellungsraum, die sowohl ortsspezifisch als auch imaginär ist und Wünsche in Bezug auf Körperlichkeit und Umgebung thematisiert. Stapel von Postern zum Mitnehmen sind eine Hommage an Félix Gonzáles-Torres und verbinden Vergangenheit und Gegenwart in einem flüchtigen Raum. Die Installation wird von Anna Rimmel und Lukas Gritzner durch die Performance ihrer Texte aktiviert.
Jojo Gronostay, RE-(CREATION), 2021, Film, Courtesy Galerie Winter, Odartey Aryee
Der Ort befindet sich in einem Zwischenzustand. Die alten Häuser an der Küste von Accra wurden abgerissen, um das neue Tourismusprojekt und Wahrzeichen von Ghana dort entstehen zu lassen. Hier wollte ich, dass das Fußballspiel stattfindet. Ich habe oft über die Bedeutung von Fußballtrikots im globalen Süden nachgedacht, sie sind sehr präsent im öffentlichen Raum vieler Städte. Sie sind eher Alltagskleidung, als dass sie etwas mit dem Fan-Sein zu tun haben, und außerdem nicht so geschlechtsspezifisch wie in Europa.
Manchmal fühlt sich Kunstschaffen wie eine sportliche Aktivität an. Bis zu meinem 19. Lebensjahr habe ich professionell Fußball gespielt und dann entschieden, dass ich einen anderen Weg einschlagen möchte. Zu der Zeit habe ich zum ersten Mal gespürt, dass meine Entscheidungen ein größeres Gewicht haben. Generell interessiere ich mich oft für hybride oder Zwischenzustände. Dieser Zwischenzustand zwischen Modepräsentation, Kunst und Sportperformance war mir wichtig. Der Übergang zwischen Subjekt und Objekt. Auch das Kunstprojekt DWMC – Dead White Men’s Clothes, bewegt sich zwischen der Kunst- und der Modewelt.
Meine Arbeit ist oft ein Werkzeug für mich, um besser mit meiner komplexen Beziehung zum afrikanischen Kontinent umzugehen. Häufig habe ich mich während der Entstehung der Arbeit gefragt: Hat mein Blick auf dieses Spielfeld eine Farbe? Und wenn ja, welche?
Flora Hauser, Studie zu PARADE, 2022, uni style fit auf Papier
PARADE
0. Am Anfang stand die Kapuze. Ich hab mir in den Kopf gesetzt, ich muss eine gigantische Kapuze nähen und besticken.
Schon irre, wie manchmal alles plötzlich zusammenfließt und Sinn ergibt. Ich habe wochenlang an einem auf Kapuzen aufbauenden Entwurf gearbeitet, der auf einer wortlosen, gefühlsbetonten, traumartigen Vorstellung basierte. Irgendwann, an einem Endpunkt, hab ich mich dann zwischen lauter bestickten Stofffetzen für noch halbfertige Wandarbeiten und Kleidungsstücke gefragt: So, und wieso würde man sakrale Boxbekleidung zu einem Anlass passend zur Wanddekoration tragen?
1. PARADE allg.: festliche, feierliche Aufstellung, Zurschaustellung // SAKRAL, das Wort war mir wichtig. Ein „Über“, das „Epische“, „Numinose“ …extrem unpraktisch sollte die Kleidung werden, quasi form and no function. Das Schmücken sollte über allem stehen, und die Vereinigung mit dem Raum – also im Kleinen: mit einem großen Wandteppich – war das Sinnbild dafür. So wie in Schönbrunn Tapeten und Möbel zum Beispiel, nur noch einen Schritt weiter.
2. Irgendwie ist mir das Boxen im Leben passiert. Die emotionale Bindung, die ich rasant zu dem Sport aufgebaut habe, ist überwältigend. Die Geschichte, wieso das so ist, ist lang und uninteressant, aber ein großer, vielleicht eben auch g i g a n t i s c h e r Stein ist mir vom Herzen gefallen. Und nachdem der Titel saß (PARADE), Entwürfe, alles halb fertig, Boxen heiß mit dem Sakralen verschmolzen, google ich mal, was PARADE eigentlich heißt. Guess what – ich hab ja gesagt, es ging schnell mit dem Verliebtsein ins Boxen, und außer MUHAMMAD ALI kannte ich noch keine Vokabel dazu – bis jetzt. PARADE.
Ein erfolgreiches Parieren, also erfolgreiches Abwehren von Schlägen. Die elegantere Art, einen Angriff zu blockieren. Erfordert mehr Erfahrung. Oder könnte man sagen … erfordert ein ÜBER?
Die Texte entstanden für die Publikation zur Ausstellung „nominiert …“ Vordemberge-Gildewart Stipendium 2022.