
Benoît Piéron
Haemo and Globine, 2023
Kunststofffigurinen, individuell angepasste Schneekugel | Plastic figurines, customized snow globe
ᴓ 120 mm
Courtesy Galerie Sultana, Paris
Benoît Piéron
Haemo and Globine, 2023
Kunststofffigurinen, individuell angepasste Schneekugel | Plastic figurines, customized snow globe
ᴓ 120 mm
Courtesy Galerie Sultana, Paris
Benoît Piéron
soap, 2023
Polyurethan, Farbpigmente, individuell angepasste Schneekugel | Polyurethane, color pigments, customized snow globe
ᴓ 120 mm
Objekt angefertigt von | Object made by Klemens Waldhuber
Courtesy Galerie Sultana, Paris
Benoît Piéron
french beaded flower, 2023
Glasperlen, Draht, individuell angepasste Schneekugel | Glass beads, wire, customized snow globe
ᴓ 120 mm
Courtesy Galerie Sultana, Paris
Benoît Piéron
nephrectomy, 2023
Polymerpaste, individuell angepasste Schneekugel | Polymer paste, customized snow globe
ᴓ 120 mm
Objekt angefertigt von | Object made by Marie Dumas / L’Atelier Lyonnais
Courtesy Galerie Sultana, Paris
„Mit dem Raum spielen“, schlägt Georges Perec in seiner assoziativen Abhandlung Träume von Räumen vor: etwa „Sich dabei fotografieren lassen, wie man den schiefen Turm von Pisa stützt …“ Schneekugeln sind so ein Spiel mit dem Raum, mit den Bildern der Erinnerung. In Monstera deliciosa, der Ausstellung des französischen Künstlers Benoît Piéron, spielen sie eine Hauptrolle. Im Ausstellungsraum im Untergeschoß des mumok, der selbst zu einer Art Warteraum eines Krankenhauses geschrumpft ist, bevölkern sie die Sitzgruppen. „[B]ei den Schneekugeln in Piérons Wartezimmer“, schreibt die Kuratorin Manuela Ammer im Katalog, „handelt es sich um verkapselte Erinnerungen, um gläserne Reliquiare, mittels derer der Künstler signifikante Momente aus seiner vom Umgang mit Krankheit geprägten Biografie mit dem Publikum teilt.“
In ihrem Gespräch im Ausstellungskatalog versuchen Piéron und Ammer, den Hintergründen dieses eigentümlichen Gegenstands, der in Wien erfunden wurde und nach wie vor in einer Manufaktur in Wien Hernals produziert wird, auf die Spur zu kommen. Hier ein Auszug daraus:
Manuela Ammer: Ich versuche mich zu erinnern, wie die Idee aufkam, dass speziell gefertigte Schneekugeln das Herzstück Deiner Ausstellung im mumok bilden sollten. Ich weiß noch, dass die Schneekugel anlässlich Deines ersten Wienbesuchs zu einem Gegenstand des Interesses wurde, aber warum, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Wir stellten damals fest, dass das erste Schneekugelpatent tatsächlich aus Wien stammt und dass die Schneekugelmanufaktur, deren Gründer Erwin Perzy I sich seine Erfindung Ende des 19. Jahrhunderts patentieren ließ, nach wie vor als Familienbetrieb existiert.
Dort wurde auch die wohl berühmteste Schneekugel der Filmgeschichte produziert, und zwar jene, die dem Zeitungsmagnaten Charles Foster Kane in Orson Wellesʼ Citizen Kane (1941) im Sterben aus der Hand fällt, kurz bevor er sein letztes Wort „Rosebud“ spricht. Der bekannteste Sammler von Schneekugeln wiederum war sicher Walter Benjamin, über den Adorno schrieb: „Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze im Herbarium. Kleine Glaskugeln, die eine Landschaft enthalten, auf die es schneit, wenn man sie schüttelt, zählten zu seinen Lieblingsutensilien.“
In Citizen Kane symbolisiert die Schneekugel die Kindheit; für Benjamin scheinen es die der Realität entrückten Miniaturwelten gewesen zu sein, die ihn faszinierten. Beides hat mit der Idee des Souvenirs zu tun, als das die Schneekugel bis heute gerne dient: die Sehnsucht, sich an einen Ort oder ein Ereignis zu erinnern, diese en miniature mit nach Hause nehmen zu können. Mit der Schneekugel halten wir eine Welt in Händen, auf die wir durch das Schütteln Einfluss nehmen können. Vielleicht taugt das Beobachten des sich langsam setzenden Schnees im Glas auch als meditative Übung. Ein Sturm im Wasserglas.
Dass es einen Link zwischen der Schneekugel und der Medizin gibt, erfuhren wir erst später. Perzy, der auf die Herstellung chirurgischer Instrumente spezialisiert war, erfand die Schneekugel eigentlich nebenbei, als er nach einer besonders hellen Lichtquelle für chirurgische Eingriffe suchte. In Zusammenhang mit Deinen Schneekugeln, deren Inhalte sich aus dem Universum Deiner Krankheitserfahrungen speisen, erscheint dieser Nebenschauplatz besonders signifikant …
Benoît Piéron: Schwebende Teilchen, Niederschlag, kostbare Flüssigkeiten und Abkapselung. Die Zutaten einer Schneekugel erinnern mich an die Fauna und Flora, die in der Zeichentrickserie Il était une fois… la Vie (Es war einmal … das Leben, 1986) zu sehen waren. Sie ist außerdem eine Cousine der Lavalampe, beides sind Gegenstände, die ganz eng zusammenhängen mit den phänomenologischen Repräsentationen der chemischen Innerlichkeit von Körpern.
Die Schneekugeln sind anlässlich einer Vorführung des Films Tom et Lola in unserer Korrespondenz aufgetaucht. Ich habe einige Fotos vom Film gemacht und sie Dir geschickt. Der Film Tom et Lola (1990) ist für mich eine Werkbeschriftung zu meinem Leben. Die Geschichte dreht sich um zwei Kinder, die kein Immunsystem haben und die seit ihrer Geburt in durchsichtigen Blasen und in kontrollierter, aseptischer Atemluft leben. Der Film entspricht völlig der crip-Norm, einschließlich der Sprachverwendung und dem Verhältnis zur äußeren Welt. Eines Morgens lässt Toms Vater seinem Sohn ein Bilderbuch mit dem Titel Tom et Lola zukommen, die Geschichte zweier Kinder mit Entdeckerdrang, die in einem dichten Dschungel aufwachsen. Als das Buch zu ihm in die Blase gelangt, zerreißt Tom es frohlockend in zahllose kleine Papierschnipsel. Er schleudert einen Armvoll in die Luft, die Kamera zeigt uns die Szene in der Totalen und das Kind in seiner Blase „wird“ zu einer Schneekugel. Die Grausamkeit dieses elterlichen Geschenks wird in guter alter crip-Manier (1) umgekehrt.
Eines Tages begreift Tom das System, mit dem es möglich ist, sich aus der Blase zu befreien, und ab diesem Augenblick beginnen sie heimlich, das, was die Gesunden [valides] (2) die Wirklichkeit nennen, zu erkunden. Von ihren nächtlichen Expeditionen bringen sie Gegenstände mit, für die sie eine poetische Verwendung erfinden. Plötzlich entsteht eine fatale Durchlässigkeit zwischen der Wirklichkeit der Gesunden und der Invalidierten.
In den Schneekugeln des mumok verkapsle ich persönliche Erinnerungen, die mit der großen kollektiven Intimität des Pyjama-Volkes verbunden sind. Die verzauberte Distanznahme, die die Schneekugel bietet, ermöglicht es mir, in der Zivilgesellschaft Darstellungen des Todes und seiner lebendigen Verkörperung, der Krankheit, zu verbreiten, die von der ärgerlichen und validistischen Norm abweichen, die sich auf Heilung konzentriert und die Ekstasen des Vorspiels unbedacht lässt.
Das vollständige Gespräch, in dem es auch um Pflanzen, Kindheitsmonster oder die Farbe Rot geht, finden Sie im Katalog Benoît Piéron. Monstera deliciosa, hg. von Manuela Ammer, Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 2023
(1) Als strategische Praxis einer resignifizierenden Aneignung verwenden Aktivist*innen im englischsprachigen Raum den pejorativen Ausdruck crip als positive Selbstbezeichnung, wobei diese mittlerweile auch in anderssprachigen Räumen genutzt wird. Crip bezieht sich nicht nur auf Menschen mit sichtbaren körperlichen, sondern auch mit unsichtbaren Behinderungen, chronischen Krankheiten wie chronischen Schmerzen.
(2) Benoît Piéron spricht von „corps invalidés“, um zu betonen, dass die Unterscheidung zwischen validen (gesunden) und invaliden (kranken, entwerteten) Körpern eine soziale Zuschreibung und diskriminierende Praxis ist. Dieser liegt eine soziale Norm zugrunde, nach der sich der Wert eines Körpers an den ihm zugeschriebenen (Leistungs-)Fähigkeiten bemisst. Vgl. auch die französischen Begriff Validisme für Ableismus (engl. ableism, abgeleitet von ability, Fähigkeit).