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Restaurants im Kopf

mumok insider


mumok Bibliothekarin Simone Moser über Lokalbesuche und bibliophile Menüs in Künstlerbüchern

Was haben Zahlenreihen, Kamele und dumme Fragen miteinander zu tun? Die Schnittstelle ist das Restaurant! In Zeiten, in denen wir die Gastronomie so schmerzlich vermissen, ein Blick auf das Thema Restaurants in drei Künstlerbüchern aus der mumok Bibliothek.
 

Mario Merz, Fibonacci 1202 – Mario Merz 1972, Galleria Sperone, Turin 1972, 32 Seiten

Mein Favorit ist ein kleines, unauffälliges und bescheidenes Büchlein: 16 Seiten, schwarzweiße Fotostrecke, gelumbeckt.* Es entstand 1972 in Turin. Das Konzept dazu stammt vom Künstler Mario Merz, die fotografischen Aufnahmen von Mussat Pellion. Seine Kernaussage: Una somma reale è una somma di gente – eine echte Summe ist eine Summe von Menschen.
Auf Seite 1 blicken wir in ein leeres Restaurant. Auf den Folgeseiten füllt sich der Raum. Anfangs mit einzelnen Personen, später kommen Grüppchen dazu – bis es richtig voll wird. Ein scheinbar ganz banaler Vorgang, wie wir ihn aus dem Alltag kennen. Doch dahinter steckt ein ausgeklügeltes System. Der Buchtitel verrät uns, wir haben es mit Mathematik zu tun: Fibonacci 1202 – Mario Merz 1972 nimmt Referenz auf eine spezielle Zahlenfolge, die so genannte Fibonacci-Reihe. Diese beginnt ganz simpel bei 0 und 1. Danach wird jede Zahl mit der vorhergehenden addiert, wodurch sich das Schema 0–1–1–2–3–5–8–13–21 und so weiter ergibt. Der Prozess der Addition ließe sich unendlich lange fortsetzen. Im Buch endet die Zahlenreihe mit 55, also 55 Restaurantbesucher*innen. Die von Seite zu Seite anwachsende Präsenz von Personen erfolgt exakt in der Abfolge der Fibonacci-Reihe. Merz visualisiert das Konzept von Wachstum und Ausbreitung innerhalb eines definierten Settings durch das gesteuerte Eintreffen der Gäste. Sowohl die erwähnte Zahlenreihe als auch die von Fibonacci kreierte Spirale werden von Merz ab den 1970er-Jahren künstlerisch rezipiert. Als Nahtstelle zwischen Intellekt und (denkender) Natur nahmen sie fortan einen maßgeblichen Platz in seinem Werk ein und avancierten zu einer Art Signatur seines Schaffens.

*Die einfachste und schnellste Art, einen Buchblock zu binden. Dabei wird Leim auf den Rücken gestrichen und getrocknet. Das Papierformat wird nicht verändert, da die Blätter nicht gefaltet werden müssen.
 

Daniel Spoerri / Carlo Schröter, Restaurant Spoerri – Suppen, 1977, Düsseldorf, 36 Seiten

Das zweite Buch, ein kleines Heftchen, ist der Zusammenarbeit des Künstlers Daniel Spoerri mit dem Wirt Carlo Schröter geschuldet. Die beiden lernten sich in Düsseldorf kennen und eröffneten 1968 das Restaurant Spoerri, bald Treffpunkt der Kunstszene. Das Duo Spoerri/Schröter verstand sich bestens darauf, die Grenzen des guten Geschmacks provokant und humorvoll auszuloten. Auf das exotisch animalische Angebot ihrer Speisekarte, wie Elefantenrüssel und Kamelfleisch, ließen sich vermutlich nur Mutige ein. Man könne prinzipiell alles essen, was bekömmlich ist, lautete hier die Devise. Zum Mitnehmen gab es auch eingekochte Speisen in Dosen.
Bei unserem Booklet handelt es sich um eine Rezeptsammlung für die Suppenküche unter Verwendung von Fleisch von Löwen, Antilopen, Ziegenböckchen, Bisons, Leoparden oder Bärentatzen. Das zur Suppe verarbeitete Hängebauchschwein züchtete Schröter selbst, und der Literat Rolfrafael Schröer streute in die einzelnen Rezepte einige Prisen Text als geistige Zutat ein. So entstanden „acht nonsensische Suppenlieder … zu acht Suppenkreationen …, tierisch ernst zu singen“. Sie alle enden mit dem stets selben Reim:

und Carlo aller Suppenköche Meister tat
noch dies uns das dazu
und einen Schuß esprit
bon appétit

 

Robert Filliou, Ample Food for Stupid Thought, New York: Something Else Press, 1965, 96 Seiten

Das dritte und letzte Buch, eine Fluxus-Publikation, symbolisiert für mich das Restaurant im Kopf. Neben spektakulären Aktionen, Performances und anderen aufsehenerregenden Inszenierungen gibt es eine stillere Seite von Fluxus. Wir finden diese in Texten, Zetteln, Objekten in Schachteln – oft verarbeitet zu so genannten Multiples, die seit den 1960er-Jahren als „dreidimensionale Gedichte“ Nahrung für Kunst und Leben liefern. Ample Food for Stupid Thought (Reichlich Futter für dumme Gedanken) von Robert Filliou entstand 1965 und kann gelesen oder performt werden. Der Text besteht zur Gänze aus Fragen: eine Frage pro Seite in großer Schrift auf weißem Hintergrund. Es sind verblüffende, ironische, verrückte, auch ernsthafte Fragen – mit der Absicht gestellt, spontane, absurde, äquivalente, ernsthafte Antworten zu bekommen. Eine kleine Kostprobe:

Whoever heard of a nice rat?
If your aunt were a man would she be your uncle?
At what time does wisdom cry out in the streets?
What’s the quickest way to get the US Armed Services out of Vietnam?

Das Konzept zu Ample Food for Stupid Thought funktioniert multimedial, wobei die Erstversion aus demselben Jahr aus 96 einzelnen Postkarten besteht, die in einer hölzernen Box verwahrt werden (siehe auch hier). Etwas später fasste Filliou die losen Karten in identischer Reihenfolge zu diesem Buch zusammen. Im Zuge einer Performance richtete Filliou am 8. Februar 1965 im Café Au Go Go, dem prominenten Nachtclub in Greenwich Village, Fragen daraus an das Publikum. In einer weiteren Variante der Arbeit wurden zufällig ausgewählte Fragen, random postcards, in Sets oder als Einzelstück mit der Post versendet.*

*In diesem Kontext ist auch das von Filliou entwickelte Konzept des Eternal Networks, das für die Mail Art so wichtig war, zu erwähnen.


Alle drei erwähnten Künstlerbücher sind Teil der Sammlung der mumok Bibliothek und können, neben vielen anderen, vor Ort betrachtet und erforscht werden.