
Jesse Stecklow
Ear Wiggler, 2016
Ear Wiggler (LEFT and RIGHT), 2015
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Jesse Stecklow
Ear Wiggler, 2016
Ear Wiggler (LEFT and RIGHT), 2015
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Jesse Stecklow
From Ear to Ear and Back Again, 2021
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Für den Katalog zur Ausstellung Jesse Stecklow. Terminal schrieb Kuratorin Lisa Long einen Text über Jesse Stecklows künstlerische Arbeit. Der folgende Auszug beschäftigt sich mit einem zentralen Motiv in Stecklows Praxis: Ohren. Was es mit diesem Motiv auf sich hat, lesen Sie hier.
In der Ausstellung – wie in Stecklows Kunst im Allgemeinen – tauchen immer wieder Ohren auf. Um einige prominente Beispiele zu nennen: „ears of corn“, Maiskolben auf Deutsch, auf Papier gezeichnete menschliche Ohren oder Scans der Ohren diverser Ausstellungsbesucher*innen. Letztere werden direkt an eine Datenbank mit Ohrenscans übertragen, aus der sich Stecklow für die Entwicklung weiterer Ohrenmodelle für neue Werke bedient. Schon seit seiner frühen Kindheit ist Stecklow von Ohren fasziniert. Die ersten Ohren, die er zeichnete, waren die seines Großvaters, entstanden bei einem Krankenhausbesuch kurz vor dessen Tod. Dieser Großvater, der Künstler wie sein Enkel war, konnte mit den Ohren wackeln, etwas, zu dem nur etwa zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung fähig sind. Mit den Ohren zu wackeln ist eine verkümmerte Fähigkeit: Für unsere entfernten Vorfahren mag das einmal wichtig gewesen sein, für uns aber hat es schon lange keine Funktion mehr. Ähnliches gilt auch für die versteinerten Waltrommelfelle. Auch sie haben keine direkte Funktion mehr und wirken hier in der Ausstellung eher absurd – und irgendwie seltsam romantisch. Und dennoch verweisen sie auf das Ohr in seiner Funktion als Resonanzkörper, der Klangwellen aus der Luft filtert und ans Gehirn übermittelt – und als etwas, das uns ermöglicht, die Balance zu halten und uns zu orientieren. Walen hilft die Übertragung von Vibrationen aus dem Kiefer in die Trommelfelle zudem bei der Orientierung auf ihren weltweiten Wanderungen.
Die kinetische Skulptur Ear Wiggler (LEFT and RIGHT) von 2015 besteht aus zwei aufrecht stehenden Aluminiumzylindern. Sie sind in etwa 15 Zentimeter Abstand auf modifizierten Schuhschachteldeckeln platziert. In jedem Zylinder steckt ein getrockneter gelber Maiskolben, der auf einem darunter versteckten Ventilatormotor montiert ist. Kleine Zeichnungen von überdimensionierten Ohren – Grundlage der Zeichnungen sind die massigen Läppchen von Stecklows Großvater – sind vorne an die beiden Zylinder angeheftet. Beide Ear Wigglers werden mit Strom betrieben und von einer Zeitschaltuhr gesteuert. Alle viereinhalb Minuten schalten sie sich ein, drehen sich für 30 Sekunden und machen dabei ein maschinenartiges, fließbandähnliches Geräusch. Das englische „ear“ mag Ohr und Ähre zugleich bedeuten, und doch sind die etymologischen Wurzeln andere. Die Sprache hat sie trotzdem miteinander verwoben. In Stecklows Werk kristallisierte sich diese Verbindung 2014 mit der Auswertung einer vom Künstler entnommenen Luftprobe heraus, in der eine erhöhte Konzentration von maisbasierten Produkten und Nebenprodukten in der Luft festgestellt werden konnte. Das Vorkommen von Ethanol, Azetatsäure und Furfurol lässt Rückschlüsse auf die weitverbreitete Produktion und häufige Verwendung von Mais in verschiedenen Industrien in den USA zu. Stecklow beschäftigte sich daraufhin mit Mais als gemeinsamem Ursprung dieser chemischen Verbindungen und begann einzelne Maiskolben über entsprechende Spurenelemente mit den größeren industriellen und landwirtschaftlichen Zusammenhängen sowie dem Handel mit Benzin in Verbindung zu bringen. Seitdem sind die Luftkeimsammler fester Bestandteil seiner Arbeit. Diese Geräte sammeln den „Staub“ in der Luft – und liefern damit jedes Mal ein Abbild der jeweiligen Umwelt.
Lisa Long ist Kuratorin an der Julia Stoschek Collection in Berlin. Zu ihren jüngsten Gruppenausstellungen gehören at dawn (2022) und A Fire in My Belly (2021) sowie eine Reihe von Einzelausstellungen mit Sophia Al-Maria, Meriem Bennani, Renate Lorenz/Pauline Boudry, A.K. Burns, Rindon Johnson und WangShui. Long ist Mitbegründerin der feministischen Initiative And She Was Like: BÄM! und des kollaborativen Projekts Companion Studies. Sie hat an der Folkwang Universität in Essen unterrichtet und mit MFA-Studenten am Bard College und der Rutgers University gearbeitet. Long hat einen M.A. vom Center for Curatorial Studies am Bard College und einen B.A. in Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Universität Köln.