
© Phil Collins 2022
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„Das Wort ‚Kommunismus‘“, schrieb der Philosoph Jean-Luc Nancy, bedeute eigentlich nichts anderes als den „Wunsch, einen Ort für die Gemeinschaft zu finden oder wiederzufinden.“ Was Nancy beschreibt, ist für die Gegenwartskunst nach 1989 in hohem Maße aufschlussreich, denn Gemeinschaft und Kollektivität bezeichnen ein Ideal der künstlerischen Praxis, das auf Verschiebungen sozialer Emanzipationsnarrative und eine Wiederkehr utopischer Motive in der Kunst seit den 1990er-Jahren verweist. Nancy hat zwei interessante Aspekte hervorgehoben: die Fundierung des Kommunismus in der Gemeinschaft – der communitas –, und deren eigentümliche Temporalität. In der Tat bestand das Denken der Utopie häufig darin, einen Ort der sozialen Authentizität und Nichtentfremdung zu beschreiben, der die als anonym und kalt empfundene Gesellschaft überwindet. Wenn das Wort „Kommunismus“, wie Nancy sagt, auf Gemeinschaft verweist, dann handelt es sich also nicht um eine einfache Substitution: Kollektivität im Kleinen ersetzt nicht einfach die große gesellschaftliche Utopie, wie sie im Sozialismus gedacht wurde. Vielmehr wäre sie immer schon die eigentliche Utopie gewesen. Die Geschichte lehrt ohnehin, dass der Kommunismus zu groß verstanden wurde, wenn er sich auf Gesellschaft als Ganze bezog – so wie es das marxistische Denken wollte. Tatsächlich handelt es sich um ein kleines Kollektiv, das im Hier und Jetzt der Gegenwart existiert, als Nukleus des Ganzen, als partikulare Gemeinschaft der Freien und Gleichen. Diese Gemeinschaft umfasst nicht alle – noch nicht – sie befindet sich in einer Spannung zwischen der Universalität ihres Anspruchs auf Befreiung und Emanzipation und der Begrenzungen, die sie sich setzt.
Die Gemeinschaft besitzt aber zweitens auch eine eigentümliche Temporalität. Wie Nancy schreibt, verbindet sie eine gegenwärtige mit einer kommenden und einer vergangenen Utopie. Das Kollektiv der Freien und Gleichen ist die Projektion einer Zukunft, die Antizipation einer zukünftigen Welt, deren Keim im Hier und Jetzt existiert und der unser Handeln zu leiten vermag. Aber diese Gemeinschaft ist auch eine vergangene, nicht nur historisch, sondern strukturell: die Imagination des Versäumten, nicht allein als gescheiterte Revolution, sondern umfassender, als Menschheit vor ihrer Entfremdung, als ursprünglicher Naturzustand, als Garten Eden, als kulturell-religiös überdauernder Topos einer vergangenen Unschuld. Natürlich gibt es keinen Weg zurück in diese Vergangenheit, aber einen Weg „zurück nach vorn“: über die Aktualisierung, welche das Vergangene in einer zukünftigen Form des Lebens neu realisiert.
Es ist ein Aspekt des Films marxism today (prologue) von Phil Collins aus dem Jahr 2010, dass er die Transformationen des utopischen Denkens nach 1989 aus einer Perspektive betrachtet, die dem Wandel dessen, was Kommunismus, Emanzipation und Freiheit bedeuten, Rechnung trägt. Dabei thematisiert Collins vordergründig die Ablösung des marxistischen Denkens von der Ideologie und die Rückübertragung in den Bereich der Theorie als Denkmethode der Kritik. Der Sozialismus in der ehemaligen DDR wird hier nicht durch lineare geschichtliche Narrative, sondern anhand der subjektiven Erfahrung von drei Protagonistinnen gezeichnet: Lehrerinnen, die das Fach Marxismus-Leninismus unterrichteten, werden zwanzig Jahre nach dem Untergang des Systems porträtiert, für das sie lehrend einstanden. Was als Frage nach der Aktualität von Marx aufgeworfen wird, auch anhand der Kontrastierung von historischen Archivmaterialien mit den neueren Interviews der Lehrerinnen, schließt weniger daran an, wie eine kommunistische Gesellschaftsutopie in den sozialistischen Ländern konkret hätte aussehen können, als vielmehr an das Potenzial der Kapitalismuskritik, welche das heutige Revival der Schriften von Marx motiviert.
Was heißt es also, wenn die Gemeinschaft als eigentlicher Ort der Utopie erscheint – und was heißt es, wenn diese in der Kunst thematisch wird? Die Kunst absorbiert das große gesellschaftliche Narrativ der Befreiung und Emanzipation und rettet es, sie wird zum Ort einer lokalen und temporären Versöhnung. Ihre Gemeinschaften stehen im Zeichen einer Antwort auf die gegenwärtigen Strukturen von Entfremdung, im partikularen Anspruch entsteht zugleich Raum für Differenz. Wenn die nach 1989 einsetzende Konjunktur von kollektiven und gemeinschaftsorientierten Praktiken in der Kunst eine Aktualisierung des utopischen Denkens bedeutet, dann jedenfalls nicht allein als Kompensation für die Unmöglichkeit der großen Utopie. Angesichts der ökologischen Krise, der Pandemie und der Kriege sind künstlerische Praktiken der Gemeinschaft aber auch deshalb so interessant, weil sie Kollektivität und Solidarität heute nicht einfach nur selbstgenügsam – als „bloße“ Utopie – ausbuchstabieren, sondern weil sie Modelle eines Miteinanders entwerfen, die in die gesellschaftlichen Verhältnisse jenseits der Kunst diffundieren. Die kleinen Utopien der Kunst sind keine abgeschotteten Inseln, sie schwimmen auf den Ozeanen der Gesellschaft. Denn natürlich ist die Diagnose, dass „etwas fehlt“, wie Brecht sagte, als Aufforderung zur Emanzipation und Freiheit für alle zu verstehen – in letzter Konsequenz bleibt die Utopie eine universelle Idee.
Sebastian Mühl
Sebastian Mühl ist Kunsttheoretiker, Forscher und Kurator.
marxism today (prologue) (2010) von Phil Collins ist noch bis 6. November 2022 in der Ausstellung Kollaborationen im mumok zu sehen.