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Wifredo Lam
Elegua, 1959
Öl auf Leinwand
110 × 85 × 2 cm
erworben 1960

In einer vielstimmigen Moderne, die sich nicht auf der Einbahnstraße einer eurozentristischen Kunstgeschichtsschreibung fortbewegt, konfrontiert das Werk von Wifredo Lam (1902–1980) die frühe Avantgarde mit ihrer eigenen Herkunft. Lam, geboren in Kuba mit afrikanischen und chinesischen Wurzeln, stieß 1923 in Paris zur Bewegung der Surrealisten und wurde Freund von Pablo Picasso. Schon ein flüchtiger Blick auf Elegua (1959) aus der mumok Sammlung lässt daher aus gutem Grund Picassos Guernica (1936) in der Erinnerung aufleuchten. Picasso und die Maler der frühen Avantgarde in Europa nutzten afrikanische oder indonesische Artefakte, um sich mit deren Ausdrucksmöglichkeiten in der Malerei einem neuen Verständnis der Realität und ihrer Abbildung zu nähern. Dieser allseits bekannte Startschuss in die kubistische Abstraktion kann auch kritisch hinterfragt werden. Wenn Pablo Picasso etwa in seinem berühmten Les Demoiselles d’Avignon (1907) Frauen die Gesichter afrikanischer Masken gibt, dann verwendet er Objekte, die einem rituellen, gesellschaftlich oder religiös bestimmten Kontext angehörten, für eine Bordellszene.(1) Den Kubisten ging es um die Form, nicht um die ursprüngliche Bedeutung der Objekte, die sie selbst sammelten oder im 1878 gegründeten Musée d‘Ethnographie du Trocadéro sehen konnten, eine Sammlung von Kulturgütern, die auch Ausdruck der kolonialen Expansion Frankreichs in jener Zeit war.

Wifredo Lam gehörte wohl zu den ersten Künstler*innen, die sich der einseitigen Appropriation fremder Kultur in seinem Umfeld bewusst war. Als er 1941 aus Frankreich fliehen musste, reiste er zunächst nach Martinique – auf dem gleichen Schiff wie André Breton und Claude Lévi-Strauss – und dann weiter nach Kuba. Auf Martinique lernte er Aimé Césaire kennen, den Dichter und Erfinder der „Négritude“, einer Bewegung, die sich in den 1920er-Jahren formierte und gezielt nach eigener Identität in kolonialen Kontexten und Abhängigkeitsverhältnissen fragte. In Kuba angekommen, überfiel ihn die Rückständigkeit eines Landes, in dem er nicht nur aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wurde, sondern das auch komplett dem amerikanischen Imperialismus und seinen Strukturen der Ausbeutung unterworfen war. Kuba war zu jener Zeit nicht nur Lieferant wertvollen Zuckerrohrs, sondern auch Teil der amerikanischen Vergnügungsindustrie. Nicht zuletzt Hollywood propagierte das Bild eines exotischen Kubas, das viele Bewohner*innen in Abhängigkeit und Prostitution zwang – „Havana at that time was a land of pleasure, of sugary music, rumbas, mambos and so forth. The Negroes were considered picturesque … As for mulatto women, they were much sought after and as often as not became prostitutes. (…) What I saw on my return was like some sort of hell. For me, trafficking in the dignity of a people is just that: hell.”(2)
Ab jener Zeit begann Lam, in seiner Malerei einen Ausdruck für afrikanisch-kubanische Identität zu finden. Wesentlicher Teil dieser kulturellen Identität ist bis heute die synkretistische Santeria Religion, deren Wurzeln in der Religion der Yoruba aus Nigeria bzw. Togo und Benin liegt. In der Santeria werden sie mit christlichen Lehren verknüpft – was von der katholischen Kirche nicht anerkannt, sondern lediglich gebilligt wird. Santeria war lange der kubanischen Unterschicht der People of Color zugeordnet, die gebildete und finanzielle Elite Kubas distanzierte sich von einer aus der Tradition der Sklaverei entstandenen Kultur. Wifredo Lam fand für diese Kultur, die keine eigenständige künstlerische Tradition besaß, eine Ausdrucksform, die von der europäischen Moderne beeinflusst war, mit dem Wissen, dass diese selbst vom kolonialen Transfer afrikanischer und ozeanischer Kunst inspiriert war. Ein Stil, der sich seiner kolonialen Entstehungsgeschichte bewusst ist, wird nun umgekehrt eingesetzt, um einen eigenen afro-kubanischen Stil zu schaffen.

Elegua zeigt auf einem eher düster wirkenden, braun-grauen Grund eine Frau in kubistisch-surrealer Formensprache. Die Figur ist stark abstrahiert, der Kopf etwa kaum zu erkennen, die gelängten Hände und kreisrunde Brust dafür umso deutlicher. Im Stil Picassos der 1930er-Jahre ist alles Fläche ohne Tiefenraum oder Dreidimensionalität. Die Frau ist kein Porträt, sondern eine überweltliche Darstellung von Lams kubanischer Taufpatin Mantonica Wilson, einer mächtigen Heilerin, Priesterin, Seherin und Schamanin des Santeria. Der stark abstrahierte Kopf der Frau ist bei Lam mal mehr – hier weniger explizit – der eines Pferdes. In der Santeria-Symbologie bedeutet dies, dass ein Gläubiger von einem Gott (Orisha) besessen bzw. mit seiner Kraft ausgestattet ist, d.h. von diesem Geist gleichsam „geritten“ wird. Die in allen Aspekten antikoloniale weibliche Kraft der Priesterin als „femme cheval“ in Person seiner Patentante ist Lams immer wieder neu inszenierte Verbindung zur eigenen „Négritude“.
Die einzige Buntfarbe im Bild ist ein zartes Grün, das sparsam eingesetzt auf dem Gebilde in der Bildmitte auftaucht. Mit seinen ornamentalen und spitz auskragenden Formen in vertikaler Anordnung erinnert das Motiv an Lams Bilder von Totems, mit Anklängen an Skulpturen aus dem Pazifikraum. Es sieht aus, als sei es Teil des Körpers und mit ihm verwachsen, im Gegensatz zu der Schale, die die pferdeköpfige Priesterin in ihrer Rechten hält – und aus der ein kleiner, fast niedlicher Kopf mit spitzen Ohren, Knopfaugen und geöffnetem Mund herausblickt. Es ist Elegua, ein Orisha, Teil der Götterwelt der Yoruba, die auf den Sklavenschiffen den Weg in die „neue“ Welt und in die Santeria-Kultur gefunden hat. Er wird an Türen platziert, weist den Weg und ermöglicht Öffnungen. Er ist der Gott der Kreuzungen, und ohne seine Zustimmung kann keine Santeria-Zeremonie beginnen. Er ist der Zeuge allen menschlichen Tuns, ohne seinen Segen gibt es keinen Fortschritt, kann nichts gelingen in der Welt.(3)

Das Bild wurde 1959 gemalt, zu einer Zeit, als Lam wieder in Europa lebte und die Ereignisse auf Kuba nur aus der Ferne verfolgte. Am 1.1.1959 hatten die Revolutionäre in Kuba den Diktator Fulgenio Bautista vertrieben, und mit Fidel Castro begann eine Zeit, von der sich auch Wifredo Lam gesellschaftliche Selbstbestimmung und eine Neubewertung kubanischer Kultur und Identität erhoffte. So deutlich wie uns Elegua hier vor die Nase gehalten wird, liegt es verführerisch nahe, das Bild in diesem Kontext des Neubeginns zu sehen und die Gottheit als eine Art spirituellen Türöffner und Begleiter der Revolution zu verstehen. Das mag übertrieben sein, aber es bleibt, dass sich in Lams Bildwelt jene Magie und Spiritualität wiederfindet, die sich die europäische und amerikanische Avantgarde der Nachkriegszeit selbst ausgetrieben hatte. Oder, wie Césaire später über Lam schrieb: „In a society where money and the machine have immeasurably increased the distance between Man and things, Wifredo Lam fixes on canvas the ceremony through which everything exists; the ceremony of the physical union of Man and the world.“(4)

Jörg Wolfert

(1) Paula Sato, „Wifredo Lam, the Shango Priestess, and the Femme Cheval“, in: Journal of International Women’s Studies, Vol. 17, Nr. 3, Juni 2016, S. 94.
(2) Wifredo Lam, zit. nach Max-Pol Fouchet, in: ebenda, S. 95.
(3) http://santeriachurch.org/the-orishas/eleggua/
(4) Aime Césaire, zit. nach: Samantha A. Noël, „Brazenly Avant-Garde. Wifredo Lam’s Transformation of Cuba’s Tropical Terrain“, in: Samantha A. Noël, Tropical Aesthetics of Black Modernism, Durham 2021, S. 87.