
Alighiero Boetti, La Mappa del Mondo, 1972, mumok, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung | On loan from the Austrian Ludwig Foundation, seit/since 2001, © Archivio Alighiero Boetti,
Alighiero Boetti, La Mappa del Mondo, 1972, mumok, Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung | On loan from the Austrian Ludwig Foundation, seit/since 2001, © Archivio Alighiero Boetti,
© Archivio Alighiero Boetti, Rom/Bildrecht, Wien 2021
© Archivio Alighiero Boetti, Rom/Bildrecht, Wien 2021
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Alighiero Boetti
La Mappa del Mondo, 1972
Stickerei auf Leinen, 180 × 220 cm
Leihgabe der Österreichischen Ludwig-Stiftung, seit 2001
Ende der 1960er-Jahre versuchte sich der italienische Künstler Alighiero Boetti von der Arte povera und ihrer geradezu theatralischen Materialästhetik zu distanzieren. War er kurz zuvor noch als einer ihrer wichtigsten Vertreter genannt worden, erscheint besonders ein Werk von 1969 geradezu wie eine radikale Kehrtwende: Mit Bleistift auf Papier zeichnete Boetti die Linien eines karierten Papiers nach, bis die gesamte Oberfläche bedeckt war. Was sich wie eine absurde Handlung anhört, ist der Versuch, mit minimalen Mitteln die Gratwanderung zwischen einer strengen Regelhaftigkeit, monotonen Konsequenz und den Möglichkeiten des Zufalls auszuloten. Cimento dell’armonia e dell’invenzione zeigt, wie auf 25 Blättern durch leichte Unregelmäßigkeiten der Hand, unterschiedlich festes Aufdrücken und so weiter minimale Abweichungen entstehen, die der Künstler nicht kontrollieren kann und die dabei einen optischen Effekt produzieren, der die Zeichnungen vor Lebendigkeit geradezu vibrieren lässt.
Mit einer durchgehend spielerischen Herangehensweise an „simple“ Ideen stellte Boetti grundlegende Fragen an die Kunstproduktion seiner Zeit: Sie unterlaufen die Vorstellung von Originalität, verfolgen obsessiv scheinbar sinnlose Regeln, nutzen Schrift, Diagramme und grafische Reihen als Ausdrucksmittel, delegieren Autorschaft und geben der Idee Vorrang gegenüber der Ausführung. Die Distanzierung von künstlerischer Meisterschaft setzte Boetti als ein bewusstes „Deskilling“ ein. Vereinfachung der künstlerischen Mittel und unbeholfene Handarbeit resultierten auch in der Erfindung einer Art Doppelpersona: Boetti änderte seinen Namen in „Alighiero e Boetti“ (Alighiero und Boetti) und inszenierte damit ironisch eine doppelte Identität, die sich selbst als einen anderen vorstellt, nicht zuletzt als Ausdruck der Gleichzeitigkeit bewusster und unbewusster Prozesse.
Am 15. März 1971 reiste Boetti – offenbar eher spontan – zum ersten Mal nach Afghanistan. Er war nicht der Einzige – die Möglichkeit, auf sicheren Wegen die Welt zu erkunden, hatte den berühmten Hippie trail entstehen lassen, der auf mehreren Routen von Europa bis nach Bangkok führte und Afghanistan als Reiseland populär machte. Bereits im Herbst war Boetti wieder in Kabul und eröffnete gemeinsam mit Gholan Dastaghir, einem afghanischen Freund, das One Hotel (der Name war Resultat der Freude an Zahlen, numerischen Reihenfolgen und der Doppelbedeutung von Sprache. Boetti wohnte immer im Zimmer 11). Schon bei seinem zweiten Besuch 1971 brachte Boetti ein Stück Stoff mit, auf das er eine politische Landkarte gezeichnet hatte und das er hier besticken ließ: die erste Mappa. Boetti reiste zweimal jährlich nach Afghanistan und wohnte in seinem Hotel in Kabul. (Der Einfachheit halber nannte er sich Ali Ghiero.) 1979 mit dem Einmarsch der Sowjetunion fanden diese Reisen und das Projekt der Mappe ein vorläufiges Ende. Das One Hotel wurde geschlossen, was aus Gholan Dastaghir wurde, ist offenbar nicht bekannt. 1987 fand Boetti Stickerinnen in einem pakistanischen Flüchtlingslager in Peshawar und startete mit ihnen eine größere Produktion von gestickten Mappe und gewebten Teppichen (die wiederum traditionell ausschließlich von Männern hergestellt wurden). Das Projekt endete erst mit seinem Tod 1994.
Die Mappe verlangten – so Boetti – nichts von ihm. Er entwarf nichts, denn die Weltkarte existiert bereits, und er tat nichts, denn sie wurden von anderen ausgeführt. Genau darin lag für ihn ihre Schönheit.(1) Die Stickereien, in Italien zuerst eher skeptisch aufgenommen, brachten traditionelle Kunstvorstellungen ins Wanken. In ihnen vermischen sich unterschiedliche Medien und Darstellungstraditionen: Die kartografische Darstellung und ihr Anspruch nach „Korrektheit“ trifft auf Kunsthandwerk. Der dekorative Wandteppich und seine Ausführung durch Dritte stehen in Kontrast zur kargen und reduzierten Bildsprache der Arte povera, deren Vertreter mit rohen Materialien, wie Stein, Glas, Hanf oder Kohle arbeiteten. In die italienische Kunst ihrer Zeit kam mit den Mappe daher eine anarchisch bunte und filigrane Seite, auch, indem sie daran erinnerten, dass es an einem anderem Ort, in einer anderen Tradition auch immer andere Kunsttraditionen gibt.
Schon bei seinem ersten Besuch bei den Stickerinnen hatte Boetti eine kleine Stickerei in Auftrag gegeben und war überrascht, dass diese ohne Vorlage eine Bordüre hinzugefügt hatten. Für diese Rahmung legte er im Folgenden das Aussehen fest und erarbeitete ein System der Farbverteilung für Buchstaben und Grund, da die gleiche Kombination in keinem Stück zweimal vorkommen sollte. Später entstanden auch Arbeiten, bei denen die Stickerinnen eigene Kommentare in freie Felder einfügen konnten. Vieles entschieden sie sowieso selbst, etwa die Farbe der Ozeane. Je nach Größe dauerten die Arbeiten an einer Mappa, von denen circa 200 existieren, bis zu einem Jahr, die Arbeitsteilung bot den Frauen faire Bezahlung und sichere Versorgung. Boetti kam allerdings kaum in Berührung mit ihnen, da die Kontakte in der traditionellen Gesellschaftsstruktur Afghanistans durch männliche Vermittler liefen. Dastaghir gab die Aufträge an zwei Frauen weiter, Fatimah und Abibah, die für die Ausführung Teams von Stickerinnen zusammenstellten.(2)
Mit den Informationen der Bordüre erschließt sich die Mappa am besten von außen nach innen, vom Rand zum Zentrum der Darstellung. Verrenkt man den Hals und macht man sich die Mühe, den Text der Bordüre zu entziffern, liest man, neben numerischen Aufzählungen und philosophischen Anspielungen: ALIGHIERO BOETTI FECE PER METTERE AL MONDO IL MONDO A KABUL CON ABIBA E FATIMA NELL’ ANNO 1000 900 72 (Alighiero Boetti machte (dies) um die Welt zur Welt zu bringen mit Abiba und Fatima in Kabul im Jahr 1972). Nicht ohne Grund ist die Bordüre in der Kultur der Teppich- und Stickkunst der unverzichtbare Rahmen, der die Darstellung begrenzt und dem eine eigene Bedeutung und Aussagekraft zukommen kann. Hier gibt die Bordüre die Lesart für das Innere, das eigentliche Thema vor – ohne immer ein richtiger Schlüssel zu sein, denn QUANDO NON SI PRENDERA PIU LA RINCORSA E VICEVERSA bleibt eine mysteriöse Aussage. Man muss Anlauf (rincorsa) in verschiedene Richtungen nehmen, um den Text lesen zu können, mal von unten nach oben, mal von rechts nach links.
Das Zentrum erklärt sich nicht selbst, es ist nicht ohne seinen Rahmen verständlich, in dem Regeln, ihre spielerische Umkehrung, Sprache, verschiedene Formen der Notation und delegierte Autorschaft in einem aufklärerischen Projekt METTERE AL MONDO IL MONDO – „die Welt zur Welt bringen“ – soll. Die Bordüre als „Parergon“ (Beiwerk) ist ohne das Mittelfeld nicht möglich, während umgekehrt die Lesarten der gestickten Karte (das „ergon“) als Werk durch die Bordüre über die einer reinen Landkarte hinaus erweitert werden.(3) Durch die verqueren Hinweise der Rahmung wird die Karte als eine Darstellung der Welt erklärt, die einem abstrakten Regelwerk folgt, das willkürlich festgelegt ist – die eine Weltordnung sein will, die allerdings in dauernder Veränderung begriffen ist. Das Parergon eröffnet einen historischen, ökonomischen und politischen Entstehungskontext, der einen direkten Bezug herstellt, etwa zwischen der dem Künstler entzogenen Kontrolle bei der Herstellung und der Willkürlichkeit einer Karte als Bild von der Welt. Die Interpretationsleistung der anonymen Stickerinnen kommentiert den aktuellen „Stand“ dieses Blicks auf die Welt, der vielleicht schon während der Fertigung überholt war. Eine Karte bleibt damit immer eine Fiktion, die Erkenntnis aus ihr immer eine relative.
La Mappa del Mondo im mumok, die derzeit im Rahmen der Ausstellung Enjoy – die mumok Sammlung im Wandel zu sehen ist, ist 1972 datiert und gehört damit zu den ersten der Serie überhaupt. Ganz klein ist der Umriss Afghanistans selbst und seine Nationalflagge zu erkennen. 1972 zeigte sie drei vertikale Streifen in Schwarz, Rot und Grün. In der Mitte ist eine Moschee mit Gebetsnische in einem Ährenkranz zu sehen. Mit dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 wurde das Emblem auf einen einheitlich roten Grund gesetzt und der sowjetischen Flagge angeglichen. Mit der wechselhaften Geschichte des Landes wurde keine Flagge der Welt so oft geändert wie die Afghanistans.(4) Zuletzt sah die Flagge wieder (fast) aus wie 1972, bis am 15. August 2021 mit der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan die Welt(-karte) wieder eine grundlegend andere wurde.
Jörg Wolfert
1 https://www.harpersbazaar.com/it/cultura/tv/a34760306/alighiero-boetti-d...
2 Mark Godfrey, „Boetti and Afghanistan“, in: Alighiero Boetti: Game Plan, hg. v. Lynne Cooke u. a., London 2012.
3 Vgl. Jacques Derrida, Craig Owens, „The Parergon“, in: October, Vol. 9, 1979, S. 24 f.
4 Flaggen Afghanistans zum Vergleich.