
Sigmar Polke, Günther Brus, 1973, © The Estate of Sigmar Polke/Bildrecht, Wien 2021
Sigmar Polke, Günther Brus, 1973, © The Estate of Sigmar Polke/Bildrecht, Wien 2021
Im Rahmen der Ausstellung Enjoy – die mumok Sammlung im Wandel unternimmt die Präsentation Re/Aktionen eine Kontextualisierung des Wiener Aktionismus im Hinblick auf zeitgenössische, internationale Tendenzen. Magnus Schaefer widmet sich in seinem Text einer Arbeit von Sigmar Polke, die Günter Brus betitelt ist und auf eine Darstellung des besagten Künstlers Bezug nimmt.
Sigmar Polke (1941–2010) hat seit den späten 1960er-Jahren parallel zu seinem malerischen und zeichnerischen Werk unablässig fotografiert, gefilmt und später auch Videoaufnahmen gemacht. Man könnte sagen, dass sein Verständnis von Medien promiskuitiv war und seine Dynamik aus einem Interesse an experimentellen Mischformen gewann. In den auf Zeitungsvorlagen basierenden Rasterbildern überträgt Polke mechanisch reproduzierte Bilder in aufwändiger malerischer Handarbeit auf die Leinwand. Filme sind oft voller Mehrfachbelichtungen und visueller Überlagerungen, die in Polkes im buchstäblichen Sinn vielschichtiger Malerei ein Gegenstück finden. In dem technischen Medium der Fotografie, das eigentlich die unbegrenzte Vervielfältigung begünstigt, stellt Polke mechanische und chemische Zufallsprozesse in den Vordergrund. Diese bringen einmalige Bilder mit malerischen Effekten und taktilen Oberflächen hervor, welche oft das fotografische Sujet kommentieren oder gar mitformen. Das Porträt von Günter Brus (geb. 1938) aus der Mappe Menschenbilder 3 von 1973 liefert dafür mit der Auflösung der gegenständlich lesbaren Formen durch dramatische Hell-Dunkel-Effekte und indexikalische Spuren der Entwicklerflüssigkeit ein Beispiel. Polke unternimmt hier noch einen weiteren medialen Sprung: Die Fotografie wird – ganz im Sinne der in den 1970er-Jahren gesuchten Demokratisierung von Kunst durch Editionen und Mappenwerke – im günstigen Offsetdruckverfahren vervielfältigt.
Vom Sujet her fügt sich die Aufnahme von Brus in eine Reihe von anderen Künstlerporträts ein, die Polke in den 1970er-Jahren angefertigt hat, etwa von James Lee Byars in einer New Yorker Wohnung oder von Gilbert & George zu Besuch auf dem Gaspelshof, einem Gehöft außerhalb von Düsseldorf, wo Polke ein offenes Zusammenleben mit einem Kreis von befreundeten Künstler*innen und anderen Geistesverwandten praktizierte. Wie Byars und Gilbert & George gehörte Brus nicht zum engeren sozialen Umfeld von Polke. Das Porträt ist 1972 anlässlich der documenta 5 in Kassel entstanden, wo beide Künstler in der umfangreichen Sektion Individuelle Mythologien ausstellten. Das fotografisch dokumentierte Zusammentreffen ist aus heutiger Sicht umso überraschender, als die Arbeit in der Literatur zu Polke kaum Erwähnung findet und auch eine umfassendere Darstellung möglicher Zusammenhänge zwischen Polke und dem Wiener Aktionismus bislang aussteht.
Polke muss die Aufnahme immerhin wichtig genug gewesen sein, um sie in der Menschenbilder-Mappe reproduzieren zu lassen. In der Tat kann man anhand des Porträts sowohl formale als auch inhaltliche Affinitäten zwischen den zwei fast gleichaltrigen Künstlern ausmachen. Beide arbeiteten sich zunächst an der gestisch-abstrakten Malerei ab, die das europäische Kunstgeschehen in den frühen 1960er-Jahren maßgeblich prägte. Brus, indem er die Malerei allmählich in den physischen Raum und die Zeitlichkeit der Aktionskunst erweiterte, um seinen eigenen Körper gleichsam zur Leinwand zu machen, auf der existenzielle Fragen von Schmerz, Lust und Verdrängung zur Aufführung kommen konnten. Polke konterte den mitunter biederen Idealismus der gängigen Abstraktion durch einen freundlichen, aber scharfzüngigen Humor und die Vermischung der Möglichkeiten von Malerei und technischer Reproduktion. In den politisch und sozial turbulenten 1960er-Jahren reagierten beide auf das Fortbestehen von gesellschaftlichen Tendenzen, die eine Generation vor ihnen in Faschismus, Krieg und Genozid kulminiert waren. Auf ihre je eigene Weise machten Polke und Brus vermeintlichen Schmutz, das Unreine und Unausgesprochene, zu einem Leitprinzip. Zu dem Zeitpunkt, als das Porträt entstand, lebte Brus seit etwa zwei Jahren in Deutschland, um den strafrechtlichen Folgen der von den Behörden als „Herabwürdigung Österreichischer Symbole,“ „öffentliches Ärgernis“ und „Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit“ eingeschätzten Aktion Kunst und Revolution (1968) an der Universität Wien zu entgehen. Polkes Fotografie ist ein Hybrid aus verschiedenen Medien, die Brus’ Körper, in einer Reminiszenz an dessen eigene Aktionen, quasi-malerisch abstrahiert und visuell mit dem indexikalischen Schmutz des chemischen Entwicklungsvorgangs verschmelzen lässt, der in einem „ordentlichen“ Bild eigentlich hinter dem Sujet verschwinden sollte. Ähnlich wie Brus dies in seinen Aktionen theatralisch vorführte, lösen sich hier die Grenzen des Körpers in der Materialität des Fotos auf – eine Infragestellung der ideologischen Integrität des männlichen Körpers, der bei Brus ein dezidiert „österreichischer“ Körper war, aber aus heutiger Perspektive auch als ein weißer und westlicher Körper lesbar werden kann, zumal wenn man an den quasi-ethnographischen (allerdings politisch nicht unkomplizierten) Blick denkt, den Polke in den 1970er-Jahren zum Beispiel in Reisefotografien und -filmen aus Afghanistan, Brasilien und den USA entwickelt hat. Als eine Art Zeitkapsel erinnert Polkes Porträt von Brus an solche bislang kaum beachtete Parallelen zwischen diesen beiden Künstlern.
Magnus Schaefer
Magnus Schaefer ist Autor und Kurator. Von 2012 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum of Modern Art in New York, wo er die Retrospektiven Alibis: Sigmar Polke 1963–2010 (2014) und Bruce Nauman: Disappearing Acts (2018–2019) mitverantwortete und, ebenfalls 2018–2019, Projects 195: Park McArthur kuratierte. Sein aktueller Arbeitsschwerpunkt liegt auf den Zusammenhängen zwischen menschlicher Wahrnehmung und digitalen Medien. Er promoviert an der McGill University, Montreal zur Geschichte von digitaler Klangsynthese und Psychoakustik.