
Ausstellungsansicht / exhibition view: Emília Rigová. Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me?
8. Oktober 2022 bis 5. März 2023 / October 8, 2022 to March 5, 2023
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Ausstellungsansicht / exhibition view: Emília Rigová. Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me?
8. Oktober 2022 bis 5. März 2023 / October 8, 2022 to March 5, 2023
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Ausstellungsansicht / exhibition view: Emília Rigová. Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me?
8. Oktober 2022 bis 5. März 2023 / October 8, 2022 to March 5, 2023
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Ausstellungsansicht / exhibition view: Emília Rigová. Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me?
8. Oktober 2022 bis 5. März 2023 / October 8, 2022 to March 5, 2023
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Ausstellungsansicht / exhibition view: Emília Rigová. Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me?
8. Oktober 2022 bis 5. März 2023 / October 8, 2022 to March 5, 2023
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien
Photo: Klaus Pichler, © mumok
Die in der Slowakei geborene Künstlerin Emília Rigová beschäftigt sich in ihrer Ausstellung Nane Oda Lavutaris / Who Will Play for Me? mit der Geschichte sowie den Gegenwartserfahrungen der Roma. In einer Installation mit Pianos bezieht sie sich auf das musikalische Erbe der Roma und die darin erkennbaren Spannungen zwischen Selbstbild und Fremdbestimmung. Rainer Fuchs, Kurator der Ausstellung, die seit 8. Oktober 2022 im mumok zu sehen ist, spricht mit der Künstlerin über ihre Arbeit.
Rainer Fuchs: Du arbeitest in verschiedenen Medien, darunter Malerei, Fotografie, objektbasierte Kunst, Installation, Video und Performance. In Deinem vielschichtigen Werk richtest Du den Fokus auf soziokulturelle Themen und Fragen von Roma-Kultur und -Identität. Wie geht es Dir damit, als weibliche Künstlerin und Roma-Künstlerin zugleich wahrgenommen zu werden? Wie bedingen sich diese beiden Sphären im Hinblick auf Deine Art, zu denken und zu arbeiten?
Emília Rigová: Das hängt vom Standpunkt ab. Nur in eine Schublade zu passen oder der Sichtweise anderer zu entsprechen, fand ich immer schon schwer.
Während der Zulassungsprüfungen für mein Doktoratsstudium fragte mich das Komitee bei der Durchsicht meines Portfolios, ob ich mich eher als Bildhauerin, Performerin oder Videokünstlerin sähe. Ich antwortete: „Vor allem fühle ich mich als Emília Rigová.“ Das war 2007. Damals arbeitete ich noch gar nicht künstlerisch mit meiner Roma-Identität. Dass es aber nicht leicht sein wird zu verhindern in eine bestimmte Schublade gepresst zu werden, war mir aber schon klar, bevor ich Bári Raklóri schuf. Während meines Doktoratsstudiums hatte ich mit Katarína Boborová ein Performanceduo mit dem Namen AVO AVO gegründet. Wir wollten uns damit irgendwie gegen den Feminismus im Sinne einer von außen auferlegten Kategorie wehren.
Genauso verhält es sich mit der Frage, ob ich mich eher als weibliche Künstlerin oder als Roma-Künstlerin sehe. Je nach Standpunkt werde ich mal so, mal so bezeichnet. Es ist aber eine Sache, für eine Ausstellung über Roma-Kultur oder -Identität ausgewählt zu werden, wie sie sich durch die Augen derjenigen Künstler*innen darstellt, die ihr romipen für sich beanspruchen, und eine andere, ganz allgemein und außerhalb der Kunstwelt derart gelabelt zu werden. Auf eine Art degradiert ein Label wie „Roma-Künstler*in“ diejenigen, die damit bezeichnet werden, da es Identität auf ethnische Herkunft reduziert und man aus der Gruppe „nationaler“ Künstler*innen ausgeschlossen wird – dabei verfügen doch „Roma-Künstler*innen“ in Europa über eine ganz konkrete Nationalität. Das wirkt wie eine Kleinigkeit, aber die Konsequenzen sind weitreichend.
Das generelle „Wissen“ über Roma beruht auf trivialen Beschreibungen und Erfahrungen, die sich in der Gesellschaft vor allem als Stereotypen manifestieren. Für mich als Kulturschaffende ist es das Wichtigste zu wissen, dass meine Kunst mich als Individuum übersteigt. Allgemeiner gesehen, wird alles, was ich unter dem Label Bári Raklóri mache, Teil des „Roma-Themas“, von Roma-Kultur und ihrer Wahrnehmung. Als wäre ich von einer Künstlerin zu einem Thema geworden! Zumindest fühlt es sich manchmal so an. Das übt enormen Druck darauf aus, was ich tue und wie ich es tue. Ich performe sehr viel selbstkritischer, als ich es vor meiner Zeit als Bári Raklóri tat, da ich begreife, dass ich damit zu einem Teil oder einer Stimme der Roma-Kultur werde.
Rainer Fuchs: Mit welchen Themen hast Du Dich denn auseinandergesetzt, als Du angefangen hast, künstlerisch zu arbeiten? Was genau war Deine Position gegenüber dem Feminismus?
Emília Rigová: Seit ich in der Schule Kunst als Mittel entdeckt habe, mich selbst auszudrücken, habe ich mich damit beschäftigt, was es heißt, eine Frau zu sein. Ich studierte Steinbildhauerei an der Hochschule für bildende Künste in Bratislava. Während des Studiums konnten wir ein Jahr in einem Grafikstudio absolvieren. All meine Arbeiten aus dieser Zeit befassen sich mit einem einzigen Motiv: der Figur der Frau. Ich denke, ich habe intuitiv damit begonnen, aktiv mit meinem Selbstbild zu arbeiten. Denn als Frau fühlte ich mich oft anders. Meine Eltern hatten nur Töchter. Mein Vater, der sein Wissen weitergeben wollte, erzog mich bis zu einem bestimmten Punkt wie einen Knaben. Auf eine Art suchte er für mich damit ein „männliches“ Studienfeld heraus. Ich war dann immer die einzige Frau in einem männlichen Umfeld von sieben Buben. Das setzte sich auch während des Studiums fort. Auch dort hatte ich wieder nur männliche Mitstudierende. Klar, dass ich nicht so recht in die „Frauen“-Schublade passen wollte. Ich sprang nicht so recht auf die Dinge an, die an Frauen adressiert oder die für sie entworfen werden. Ich habe den Mythos der weiblichen Schönheit oder „die Frauenwelt“ stets kritisch betrachtet. In den Kunstgeschichtsstunden an der Schule kam ich dann natürlich mit den Performances von Marina Abramović und Ulay, VALIE EXPORT und Cindy Sherman in Berührung. Damit konnte ich dann wiederum ziemlich viel anfangen. Dennoch begann ich erst später, und zwar mit der Gründung von AVO AVO mit Katarína Boborová 2007, die Sichtweise auf Frauen, den Feminismus und „Schubladen“ im Allgemeinen öffentlich zu kritisieren. Der Name legt schon nahe, dass man unsere Arbeiten gleichsam von hinten lesen sollte. AVO AVO leitet sich nämlich von „-ová“ ab, dem slowakischen Suffix für weibliche Nachnamen. Wir rebellierten und wollten (wenn auch etwas naiv) feministischen Theorien einen Spiegel vorhalten. Glaubt man den Statements, die wir veröffentlichten, kämpften wir für Männerrechte. Wir performten stets in weißen Arbeitsoveralls und definierten uns im Hinblick auf grammatikalische Geschlechter selbst als Neutrum. Wer unsere Statements nicht kannte, der musste angesichts unserer Videoperformances sofort denken, dass wir Feministinnen sind. Waren wir ja auch. Aber wir wollten eben darauf hinweisen, dass der Begriff auch in einem allgemeineren Sinn verstanden werden kann.
Rainer Fuchs: Im Zentrum Deines Werks stehen ein sehr starkes Interesse an Geschichte und tiefgehende historische Recherchen, dazu kommt ein Interesse an der Rolle der Vergangenheit für die Gegenwart. Welche Aspekte von Geschichte interessieren Dich?
Emília Rigová: Mit Geschichte und historischen Verweisen und Verbindungen begann ich mich erst auseinanderzusetzen, nachdem ich 2012 Bári Raklóri geschaffen hatte. Seitdem versuche ich, so viele Informationen über das Leben meiner Vorfahr*innen zu sammeln wie nur möglich. Dieses Vorgehen hat sich als ziemlich fruchtbar herausgestellt. Überraschenderweise hat mir die Beschäftigung mit der Geschichte von (Menschen, die heute bekannt sind als) Roma und deren Migrationsbewegungen vor allem geholfen zu verstehen, warum die Mehrheitsgesellschaft sich nach wie vor weigert, diese ethnische Gruppe und ihre Kultur anzuerkennen. Mich hat es fasziniert, das Narrativ nachzuverfolgen, das man aus den historischen Quellen ablesen kann, und dabei zu beobachten, wie Roma in wirklich jedem Land, das sie erreichten, ausgeschlossen wurden. Ich glaube, die meisten Menschen haben eine ziemlich verzerrte Vorstellung der historischen Umstände, auch wenn sich schon in der Geschichte die Position von Roma in der Gegenwartsgesellschaft ablesen lässt. Nur wenige Menschen begreifen, dass Roma bei ihrer Ankunft in Europa von der Mehrheit einfach nur deshalb ausgeschlossen wurden, weil sie anders waren. Sie kamen aus einer anderen Welt, einer entwickelten Kultur, die sich von der europäischen Kultur des elften und zwölften Jahrhunderts radikal unterschied. Die Vorstellung, dass Roma einfach zu faul zum Arbeiten wären und dass das in ihren Genen begründet läge, findet sich beispielsweise viel zu oft. In Wahrheit aber waren die Roma-Clans in der Vergangenheit bekannt für ihr handwerkliches Können. Die Gesellschaft weiß generell nicht viel darüber, warum und wie Roma marginalisiert wurden. Sie wurden beispielsweise in dem Moment von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen, als sich in den europäischen Städten die Zünfte herausbildeten. Die Zünfte, die antraten, um die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen, installierten Gesetze, die es Roma-Handwerker*innen verboten zu arbeiten. Da sie auch keine Zunftmitglieder werden konnten, waren sie gezwungen, von Land zu Land zu ziehen, um überleben zu können. Ein Clan bestand aus etwa 100 Mitgliedern, wobei etwa 30 Mann auf dasselbe Handwerk spezialisiert waren, zum Beispiel auf das Schmiedehandwerk. Die neu entstandenen Zünfte sorgten schnell dafür, dass diese Clans aus ihren Einflussgebieten verschwanden. Historische Dokumente zeigen, dass die kirchlichen Autoritäten die Feindseligkeiten gegenüber Roma noch schürten, indem sie die Gläubigen dazu aufriefen, diese „Teufelsbrut“ zu meiden. Es war leicht, Roma als Häretiker*innen zu brandmarken, um nicht zu riskieren, dass eine Christin zu einer Roma-Wahrsagerin ging, statt Ablässe zu kaufen. Ich glaube, Roma wurden ursprünglich aus der Gesellschaft ausgeschlossen, weil sie schlicht und einfach als Konkurrent*innen wahrgenommen wurden.
Ich finde es extrem spannend, den Migrationsbewegungen von Roma zu folgen und die kulturellen Spuren aufzudecken, die sie hinterlassen haben. In der Roma-Folklore schlugen sich oft die jeweiligen lokalen Gebräuche nieder – oder andersherum. Ich habe mich auch mit den Repressionen gegen Roma beschäftigt. In der Walachei (im heutigen Rumänien) ging das bis zur Sklaverei, auf dem Gebiet der Niederlande und Deutschlands gab es zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert sogenannte Heidenjachten („Heidenjagden“) als „aristokratischen Zeitvertreib“. Ich hatte keine Ahnung von solchen Dingen – in der Schule hat man uns darüber nie etwas beigebracht, und auch zu Hause wusste niemand über diese historischen Tatsachen Bescheid. In jedem Land Europas haben sich anscheinend einige historische Elemente gehalten, die ihren Teil zum Bild der „Zigeuner*innen“ geleistet haben. Und deshalb ist die Position von Roma in der europäischen Gesellschaft auch nach wie vor derart von Traumatisierung geprägt.
Rainer Fuchs: Du formulierst auf Grundlage Deiner eigenen Nachforschungen und Deines politischen Engagements, worauf einige Deiner Werke basieren, also eine Kritik und eine Korrektur der Mainstreamgeschichte und stellst verdrängte Narrative in den Vordergrund. Nehmen wir beispielsweise eine Arbeit wie (Out of) the Deadlock, die sich mit dem Porrajmos als historischem Verbrechen und Trauma beschäftigt. Kannst Du etwas über dieses Werk sagen und sein Verhältnis zur Gegenwart beschreiben?
Emília Rigová: (Out of) the Deadlock ist Teil eines Projekts namens UNTITLED. An dieser Serie arbeite ich seit 2014. Das ganze Projekt setzt sich mit dem Roma-Holocaust auseinander, dem Porrajmos, was wörtlich übersetzt „das Verschlingen“ bedeutet. Die Verzögerung, mit der die Allgemeinheit dieses tragische historische Ereignis endlich wahrgenommen hat, zeigt einmal mehr, wie stark Roma aus dem gemeinsamen/legalen/nationalen … oder, einfacher ausgedrückt, aus dem gesamten öffentlichen Dialog ausgeschlossen sind. Öffentliches Gedenken und öffentliche Trauer gibt es erst seit 1993 (!). Seitdem wird immer am 2. August des Roma-Holocausts gedacht.
Auf jeden Fall beschäftige ich mich mit dem Gefühl der Entwurzelung oder dem „Verlust des romipen“ in der Folge dieses kollektiven Traumas. Assimilationsprogramme spielten dabei eine große Rolle. Als ich begann, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, machte ich Performances nach dem Prinzip der Eine-Minute-Skulptur. Ich habe mehrere Serien einminütiger Performances geschaffen, die den Opfern des Roma-Holocausts in den polnischen Wäldern rund um Auschwitz und Garbatka gewidmet sind. Für die Performance rollte ich mich mitten im Wald in einem Teppich ein, um einen Moment des „Versteinerns“ zu schaffen, ein nichtkörperliches Monument – eine besondere Art von „Gedenkstein“. Der Teppich hat ein auffälliges Blumenmuster. Es ist ein eigener Entwurf, beruht aber auf Tüchern, wie sie früher zur traditionellen Tracht rumänischer Romnja gehörten.
(Out of) the Deadlock betont die Entwurzelung, den körperlichen Verlust des romipen, visualisiert in einem Körper, der über einem Teppich im Wald schwebt. Wer genauer hinschaut, kann auch herauslesen, dass dieser Körper gestohlen wurde, dass er aus der Umarmung des Teppichs herausgerissen wurde. Schon das Bild eines Teppichs inmitten der Natur stellt ja eine Form der Entfremdung dar. Über das Gefühl von Entfremdung und Entwurzelung wollte ich hier letztlich Bindung und Zusammengehörigkeit schaffen.
Die ganze Videoinstallation ist im Großen und Ganzen statisch. Entwicklung gibt es nur dank des eigens aufgenommenen Soundtracks, der den Schlüssel zum Verständnis des Werks darstellt. Es handelt sich dabei um eine Aufnahme von einem Begräbnis in meiner Familie, die ich zusätzlich verzerrt habe, um sie noch eindringlicher zu machen. Die Musik verwendet Elemente des Hallgató, eines musikalischen Genres, das bei einigen Roma-Gruppen (Servike-Roma, Ungrike-Roma oder Romungro) auf Beerdigungen gespielt wird. Dieses Video hält meine Sicht auf Roma-Kultur und -Identität fest – existierend in einem luftleeren Raum, im Stillstand. Hallgató-Lieder sind langsam, trauernd, man lauscht ihnen sitzend, nie tanzend. In (Out of) the Deadlock steht diese Musik für ein emanzipatorisches Element, das einen in die Lage versetzen kann, dem Stillstand zu entkommen. Hallgató wird auch als genereller Begriff verwendet, um zu sagen „Das ist Deins!“ – ein Kennzeichen der Roma-Kultur, die nach wie vor über keine umfassend in ihrer eigenen Sprache aufgeschriebene Geschichte verfügt. Hallgató repräsentiert romipen.
Rainer Fuchs: Was war der Ausgangspunkt oder die Motivation für Dein Ausstellungsprojekt? Gab es zuvor schon ähnliche Arbeiten?
Emília Rigová: Du meinst wahrscheinlich die Ausstellung Nane Oda Lavutaris / Who will play for me?. Entwickelt habe ich sie auf Grundlage meiner Recherchen zu Roma-Musik, die nur in Form von Notationen oder in historischen Aufnahmen von Ethnolog*innen und Expert*innen aus den Roma Studies überlebt haben. Ich habe dabei vor allem nach Liedern zum Zweiten Weltkrieg gesucht. Kurz vor dem Ende meiner Residency in New York fand ich in der Zeitschrift Romano Džaniben veröffentlichte fragmentarische Recherchen, die mich zu Aufnahmen von Bohumil Valašťan und den Noten für ein Lied mit dem Titel Aven Aven o žandára („Die Wachen haben uns geschnappt“) von 1957 führten. Der Liedtext bezieht sich direkt auf die Erfahrung von Roma im Zweiten Weltkrieg: „Rasiert mir nicht den Kopf, ich gehe lieber ins Lager.“
Während meiner Residency in New York widmete ich mich der Frage, inwiefern der Roma-Spirit in Notationen bewahrt werden kann, die von Nichtroma-Forscher*innen angefertigt wurden. Ich filmte verschiedene Musiker*innen beim Versuch, das Lied nach der Notation zu spielen oder zu singen, und schuf so nach und nach ein Archiv mit Aufnahmen. In New York war es mir möglich, mit den unterschiedlichsten Menschen zu arbeiten. Der Durchbruch kam, als Roma-Musiker*innen sich an meinen Versuchen zu beteiligen begannen. Sie begriffen das Wesen des Lieds sofort – und das nicht, weil sie bessere Musiker*innen waren. Sie wussten um loke gila, ein Genre langsamer Lieder, zu dem auch Hallgató gezählt wird. Sie hatten ein authentisches Verständnis dieses Genres, und das machte es für sie einfacher, die Essenz dieses Lieds zu verstehen. An diesem Punkt entschied ich mich, für dieses Projekt keine Videos mehr zu machen. Denn es ging mir nicht darum zu zeigen, dass Roma-Musiker*innen besser sind als ihre Nichtroma-Kolleg*innen. Meine Videoaufzeichnungen schienen aber genau das zu suggerieren. Ich legte das Projekt also auf Eis und nahm es erst 2020 wieder auf. Ein Teil davon war schließlich in meiner Einzelausstellung REVIVE/PURANO HANGOS in der ArtivistLab Gallery in Prag zu sehen. Ich verwendete dafür Passagen aus Aven Aven o žandára. Ich ließ extra eine Vorrichtung für ein mechanisches Piano anfertigen, das die Zeilen „Rasiert mir nicht den Kopf, ich gehe lieber ins Lager“ in Dauerschleife spielte. Die Kuratorin Tamara Moyzes und ich entschieden uns, die Ausstellung als Porrajmos-Gedenken zu präsentieren und erinnerten damit am 2. August an den Roma-Holocaust. Während der Eröffnung konnte man sehen, wie ein Steinmetz parallel zum mechanisch spielenden Piano die Notation von Aven Aven o žandára in schwarzen Granit übertrug. Die Ausstellung Nane Oda Lavutaris / Who will play for me? im mumok baut auf diesem Projekt auf.
Rainer Fuchs: Die Roma-Lieder sind also ein zentraler Bestandteil Deiner Ausstellung im mumok. Du setzt sie auch ein, um Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu knüpfen. Kannst Du etwas über Dein Archiv sagen, aus dem Du Dich für die Ausstellung bedienst?
Emília Rigová: Ich sammle Noten alter Roma-Lieder aus der ganzen Welt, habe in den Nachbarländern ethnomusikologische Archive besucht und so über die Zeit ein eigenes Archiv zusammengetragen. So einfach die Texte dieser Lieder auch erscheinen mögen, sie halten Sprache in Schriftform fest. Die Notenblätter mit den Roma-Texten sind oft die einzigen historischen Quellen, aus denen sich etwas über spezifische Roma-Dialekte einer bestimmten Region erfahren lässt. Einige dieser Dialekte sind schon ausgestorben. Diese Fundstücke sind also sehr wertvoll, auch wenn eine authentische Interpretation ohne Wissen um die jeweiligen Genres beinahe unmöglich ist. Roma-Lieder und paramisa, die mündlich überlieferten Geschichten, stellten die einzigen Möglichkeiten dar, Informationen festzuhalten und von Generation zu Generation weiterzugeben. Warum Roma sie nie selbst aufgeschrieben haben, ist eine lange Geschichte.
Für die Ausstellung Nane Oda Lavutaris / Who will play for me? verwende ich drei Lieder von Bohumil Valašťan, die in den 1950er-Jahren in der Slowakei notiert wurden. Ich interpretiere sie in einem neuen Kontext. Das walachische Volkslied Či čorav či drábara („Ich stehle nicht, und ich betreibe keine Wahrsagerei“) wird hier beispielsweise als in Stein gemeißeltes Statement präsentiert.
Rainer Fuchs: Du interessierst Dich auch für die historische Dimension von Pflanzen, und dieses Interesse spielt auch in der Ausstellung eine zentrale Rolle. Diese Auseinandersetzung mit Pflanzen ist dabei nicht nur theoretisch, sondern direkt und praktisch. Was bedeuten Pflanzen für Dich?
Emília Rigová: Mich um Pflanzen zu kümmern entspannt mich ungemein. Jedes neue Blatt, jeder Stiel, der zu sprießen beginnt, macht mich glücklich. Ganz allgemein bin ich fasziniert von Wachstum. Darum geht es mir. Ich habe diverse Stadien des Gärtnerns durchlaufen. Zuerst habe ich mit Zitruspflanzen gearbeitet, dann mit fleischfressenden Pflanzen weitergemacht. Die fand ich sehr interessant. Es ist aber schon eine Weile her, dass ich diese Pflanzen gezüchtet habe. Damals gab es die noch nicht im Baumarkt an der Ecke zu kaufen. Wenn meine Freund*innen mich besuchten, saßen sie die ganze Zeit vor diesen Pflanzen und beobachteten sie dabei, wie sie etwas fingen. Natürlich hatten sie nicht die Geduld zu warten, bis sich eine Fliege auf die Pflanze setzte. Also stimulierten sie die Pflanzen mit einem Zahnstocher. Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass die Fallen fleischfressender Pflanzen absterben, wenn man sie überlistet und dazu bringt, sich leer zu schließen. Denn ist die Falle geschlossen, produziert die Pflanze Verdauungssäfte, um die Fliege aufzulösen. Ist die Falle dabei aber leer, so greifen diese Säfte das Blatt an. Mich interessieren derartig verzögerte Lerneffekte – wenn man langsam versteht, was einer Pflanze guttut oder eben nicht oder was geschieht, wenn man sie in ein neues Umfeld verpflanzt, das nicht ihr natürliches ist. Die Pflanzen, die in Nane Oda Lavutaris / Who will play for me? zu sehen sind, gehören größtenteils zu den Gattungen Alocasia, Begonia und Calathea. Anhand von deren Unterarten und Zierversionen lässt sich auf einer imaginären Karte nachzeichnen, wie Roma aus ihren alten Ursprungsgebieten nach Europa migrierten.
Die ausgewählten Pflanzensammlungen wurden vorsichtig zu einem lebenden, organischen Netzwerk von Epiphyten arrangiert. Dieser komplexe lebende Organismus repräsentiert die symbiotischen Beziehungen zwischen Roma und Nichtroma. Es ist gerade keine parasitäre Beziehung. Denn Epiphyten sind Pflanzen, die zwar auf anderen Pflanzen leben, deren „Wirt“ aber nur als Verankerung dient. Die historischen Darstellungen von Roma auf Postkarten oder in der Genremalerei zeigen, dass die Beziehung zu Nichtroma immer symbiotisch war. Vor 200 Jahren waren in manchen Herrschaftsgebieten sogenannte „Zigeunermusiker“ verbreitet, die die Soldaten mit ihrer Musik in die Schlacht riefen und danach auch wieder zurückbegleiteten. Das ist ein Grund, warum ich historische Quellenarbeit so mag. Man kann dabei erfahren, wie und warum eine bestimmte Roma-Gruppe sich niederzulassen begann (aufgrund historischer Begünstigung durch einflussreiche Nichtroma), wie und warum bestimmte ethnische Untergruppen entstanden und sich entwickelten und was sie gemeinsam haben (oder eben nicht). Dennoch hat sich die Wahrnehmung von Roma in der Mehrheitsgesellschaft im Verlauf der Zeit nicht viel verändert: Noch immer werden sie als exotisch, wild, frei und ganz allgemein anders angesehen. Die Pflanzen in Nane Oda Lavutaris sind ein lebendiges symbolisches Etwas, ein Konstrukt, das universelle Andersheit versinnbildlicht.
Das vollständige Interview lesen Sie im Katalog zur Ausstellung.