
(c) Simone Moser
(c) Simone Moser
Bibliothek im Homeoffice
Der Tag beginnt mit Kaffee, mit einer Tasse frisch gemahlenem, herrlich duftendem Espresso.
Wenn auch Sie Kaffeefan sein sollten, habe ich einen Tipp für Sie:
Meine erste Tasse Kaffee, 2017
Ein Film des Künstlers Moritz Frei, der sich für die erste Tasse Kaffee seines Lebens mit dem großartigen Schauspieler Bruno Ganz trifft. Auch Bruno Ganz entdeckte in seiner Rolle als menschgewordener Engel Damiel in Wim Wenders legendären Film Der Himmel über Berlin (1987) erstmals den Geschmack von Koffein.
Aus der Begegnung der Protagonisten Frei und Ganz resultiert ein wunderbares Gespräch, auch über das Kaffeetrinken, wobei uns Bruno Ganz neben Einblicken in sein privates Leben den Geschmack von Kaffee so sinnlich schildert, dass die eigenen Geschmacksknospen in Aufregung geraten.
Der folgende Teaser lädt Sie zum Amuse-Gueule ein: https://vimeo.com/user4750241 oder https://www.monopol-magazin.de/ich-wollte-wissen-wie-sich-das-anfuehlt
Der in Berlin lebende Künstler Moritz Frei gründete 2016 berlinartbooks, veröffentlicht Künstlerbücher und Editionen und arbeitet als multimedialer Installationskünstler.
Die mumok Bibliothek besitzt eine Auswahl seiner Publikationen. Leider können diese zur Zeit nicht in die Hand genommen werden, und daher kann ich nur anbieten, dem folgenden Link zu folgen, um sich ein Bild von seinem Verlag zu machen: https://berlinartbooks.com/produkte/
Moritz Freis Künstlerbücher skizzieren mit feinem Gespür die Merkwürdigkeiten des Alltags. Meine persönliche Empfehlung ist Tausche Ölbild für gebrauchtes Auto (nicht älter als 5 Jahre).
Das Buch erfüllt alle Eigenschaften, um Leser_innen zu unterhalten und gleichzeitig nachdenklich zu stimmen. So lenkt Frei in seinem Buch, einer tragikomischen Sammlung realer Künstlerannoncen, unseren Blick auf das Künstlersein als einem „fast normalen Berufsstand“. Hier eine kleine Auswahl: „Kurz vor dem Durchbruch und pleite: vielbegabter Nachwuchs-Künstler (Malerei) sucht Darlehen, Mäzen etc. Bei Inter. Fotos u. Vita, Chiffre at 387-85“. Oder: „Suche Mäzen der meine Existenz sichert und so meine künstlerische Entwicklung fördert, Chiffre 304-63“.
Nach diesem Gedankenausflug starten mein Laptop und ich in den Arbeitstag – mit einer Assoziation zu einem weiteren Künstlerbuch. Die veränderten Arbeitsbedingungen verlangen Anpassung an die Gegebenheiten, und so kann ich das folgende Buch, wie auch die meisten weiteren Exemplare, nur mithilfe von Hyperlinks präsentieren.
Sara Mackillop, Laptop, 216
http://www.mottodistribution.com/shop/laptop2.html
http://goodpress.co.uk/found-image/laptop-by
Das Buch imitiert die Form eines Macbooks und spielt auf die stylische Art von Fotografie an, mittels der Werbung und Technologiekult betrieben wird. Der aus verschiedenen Positionen aufgenommene Laptop vor weißem Hintergrund stellt sich mit gewollter Unschärfe zur Schau. Das Objekt selbst präsentiert sich isoliert und legt das Augenmerk vielmehr auf seine abstrakten Qualitäten, wie Farbe und Komposition, als auf seine technischen Eigenschaften. Die derart gewählte Präsentationstechnik zielt auf die Ironisierung des so heiß begehrten Produkts ab.
Sara Mackillop lebt und arbeitet in London. Sie studierte Malerei am Royal College of Art, London.
http://www.saramackillop.co.uk/Artist%20copy.html
In ihren Werken verwendet die Künstlerin einfache Materialien des Alltags, wie Büro- oder Verpackungsmaterial und andere kurzlebige Produkte. Das Vorgefundene wird mit subtilem Humor bearbeitet, aus dem Kontext verschoben, in seinem Erscheinungsbild verändert. Das Vertraute, Wiedererkennbare wird fremdartig, das Unauffällige auffällig. Mackillops Künstlerbücher – sie arbeitet häufig mit Aneignungen von Kaufhauskatalogen und Schreibmaschinenhandbüchern – verraten ihre Vorliebe für Ordnungssysteme, Serialität und Muster, die auf subtile Weise in Frage gestellt und untergraben werden.
Ich mache nun eine kurze Pause auf meiner kleinen Terrasse. Die Stadtgeräusche sind leiser, sind weniger geworden. In diese ungewohnte Stille mischt sich Vogelgezwitscher. Apropos Vogelstimmen, in der mumok Bibliothek kann man den Gesang von Vögeln, transkribiert in 51 menschliche Sprachen, nachlesen – oder auch zwitschern, ganz wie man möchte.
Elfi Seidel, What Birds Say, 2018
http://www.mottodistribution.com/shop/what-birds-say.html
Inhalt des Buches:
What birds say in Afrikaans, Albanian, Arabic, Armenian, Basque, Bengali, Bosnian, Bulgarian, Catalan, Croatian, Czech, Danish, Dutch, English, Estonian, Finnish, French, German, Greek, Hebrew, Hindi, Hungarian, Icelandic, Indonesian, Italian, Japanese, Korean, Latvian, Lithuanian, Macedonian, Malay, Malayalam, Mandarin, Marathi, Persian, Polish, Portuguese, Romanian, Russian, Serbian, Sinhalese, Slovak, Slovene, Spanish, Swedish, Tagalog, Tamil, Thai, Turkish, Ukranian, and Vietnamese. Für alle, die auch gerne (zu)hören: https://www.thehagueartists.nl/cv/81079
Elfi Seidel ist bildende Künstlerin. „In ihrer Arbeit untersucht sie das Verhältnis zwischen der Materialität und Immaterialität von Sprache, ihr poetisches Potential als Bildmaterial und die kontextabhängigen Bedeutungen von Wörtern, Buchstaben und Zeichen. Sie nähert sich sprachlichen Fragmenten und abstrakten Äußerungen als autonome Einheiten und arbeitet auf eine Pluralität möglicher Lesarten hin.“ (Zitat: https://elfiseidel.com)
Nun meldet sich mein Magen zur Mittagspause. Anstatt wie gewohnt ins nächste Geschäft zu huschen, müssen nun meine Vorräte herhalten. Ja, natürlich geht man mit seinen Einkaufsausflügen derzeit sparsam um. Und dazu fällt mir folgendes ein:
David Kühne, ja! buch, Rhein-Verlag, 2017
http://www.mottodistribution.com/shop/publishers/rhein-verlag/ja-buch.html
Künstlerbücher haben im Werk David Kühnes einen hohen Stellenwert. Im gemeinsam mit Sarah Kürten gegründeten Rhein-Verlag werden alle Bücher vom Druck bis zur Bindung selbst produziert. Das einheitliche Design in Schwarzweiß und die konsequente Kleinschreibung avancierten zum Markenzeichen des Verlags. Kühnes 2017 erschienene Publikation mit dem Titel ja! buch zeigt das Sortiment von Konsumartikeln der Handelsmarke Rewe: „weder affirmativ, noch zynisch, aber auch nicht völlig unbeteiligt, kann die ruhige Kälte des Buchs nur eines sagen wollen: Sag ja! zum Leben!“
Und zu einem – wie der Künstler erfahren musste – mutigen ja zum Wagnis, sich in die „Kampfzone“ zwischen künstlerischer Freiheit und Urheberrecht zu begeben.
(Foto zu finden auf der mumok Seite, Kunst Buch Donnerstag, David Kühne https://www.mumok.at/de/events/david-kuehne)
Nach dem Mittagssnack dann der zweite Kaffee, man gönnt sich ja sonst nichts – außer einem weiteren Buchankauf – vielleicht.
Alwin Lay, mod. Classic, Rhein-Verlag, 2017
https://issuu.com/rhein-verlag/docs/alwin-lay-gaggia-ansicht
https://www.printedmatter.org/catalog/34235/
Das Buch, dessen Umschlag die Bedienungsanleitung der im Titel erwähnten Espressomaschine mod. Classic der Marke Gaggia imitiert, bildet eine Kunstinstallation Alwin Lays prozessual ab. Lay positioniert eine Espressomaschine in einer Vitrine, bringt den Kaffee zum Überlaufen und dokumentiert bildlich das weitere Geschehen. Leser_innen können Seite für Seite mitverfolgen, wie die Flüssigkeit immer weiter überläuft, die Vitrine sich nach und nach füllt, bis schlussendlich die Maschine vom Kaffee verschluckt wird.
„Dem Vorgehen eines Magiers nicht unähnlich, nutzt Lay also banale Alltagssituationen als Grundlage, um diese durch gezielte Modifikationen ihrer physikalischen, temporalen oder ästhetischen Gesetzmäßigkeiten ins Befremdliche, Absurde und teilweise auch Humoristische zu überführen und damit die brüchige Relation zwischen Bild und Realität kenntlich werden zu lassen.“ (Zitat: http://www.unttld-contemporary.com/kuenstler/alwin-lay)
Da ein Tag im Homeoffice den Luxus der freien Zeiteinteilung erlaubt, beschließe ich, mir kurz die Beine zu vertreten. Die Straße ist wie leergefegt, nur selten eine Begegnung, und diese mit Abstand. Ich kann es nicht verhindern – Gedanken an Verletzbarkeit drängen sich auf. An dieser Stelle rufe ich mir die Fotokünstlerin Agnes Prammer in Erinnerung, deren Werk das Zusammenspiel von Natur und Mensch, von Mensch und Mensch, sensibel und mit kritischem Verstand thematisiert. Ein Exemplar ihrer in Handarbeit gefertigten Bücher erscheint mir ganz besonders erwähnenswert.
Agnes Prammer, Idiot Hats, 2016
https://agnesprammer.com/IDIOT-HATS
Idiotenhüte ist eine humorvolle Sammlung von Fotografien der Naturwunder des Yellowstone Nationalparks. Im Gegensatz zu den gängigen Büchern und deren Fokus auf die schöne Landschaft des berühmten Parks, konzentrieren sich Prammers Fotografien auf verlorene Hüte und Baseballkappen. Jede unberührte Landschaft, die fotografiert wird, ist durch einen Hut ruiniert. Und nicht nur die Fotografien sind ruiniert, auch die Natur selbst, beispielsweise das fragile Ökosystem eines Geysirs, ist durch die verlorenen Gegenstände bedroht. Für Prammer lässt sich der gedankenlose Umgang der Besucher auf den Umgang der Menschheit mit der Welt als Ganzes übertragen.
Foto zu finden auf der mumok Seite, Agnes Prammer, Kunst Buch Donnerstag: https://www.mumok.at/de/events/agnes-prammer]
Mein Arbeitstag geht dem Ende zu. Mit etwas Wehmut denke ich an meinen verwaisten Arbeitsplatz im Museum und verabschiede mich mit einer Handlungsanweisung Yoko Onos, zitiert aus ihrem Buch Grapefruit, in den Abend.
Earth piece
Listen to the sound of the earth turning.
Spring 1963
Yoko Ono, Grapefruit, 1964, 1970, 2000
https://edcat.net/item/grapefruit-2/
Das Buch beginnt mit Yoko Onos Worten “Burn this book after you've read it – Yoko" und der Antwort John Lennons "This is the greatest book I've ever burned. – John”.
1964 erscheint das Künstlerbuch Grapefruit. A book of instructions by Yoko Ono, das auf fast 300 Seiten Handlungsanweisungen, so genannte event scores, sowie Ideenskizzen für Musik, Malerei, Film, Tanz und andere Aktivitäten zwischen 1955 und 1964 zusammenfasst. Das kleine quadratische Fluxus-Buch, ein Werk voll poetischer Kraft, wird von der Künstlerin unter dem Verlagsnamen Wunternaum Press mit 500 Exemplaren in Tokio herausgegeben. Eine zweite Auflage erschien 1970 bei Simon & Schuster (New York), nun erweitert mit einer Einleitung von John Lennon: „Hi! My Name is John Lennon, I’d like you to meet Yoko Ono”. Der Titel Grapefruit geht auf Onos Annahme zurück, dass die Grapefruit eine Kreuzung aus einer Orange und einer Zitrone sei. Grapefruit steht symbolisch auch für Yoko Ono selbst, die sich als „spiritual hybrid“ zwischen Ost und West, zwischen bildender Kunst und Musik, versteht. Das Buch avancierte zu einem prominenten Beispiel der Konzeptkunst und war bald vergriffen. Eine dritte und erweitere Version erschien daher im Jahr 2000. Wer übrigens die erste Auflage des Buches schon vor seiner Veröffentlichung kaufte, zahlte den Subskriptionspreis von drei Dollar, danach stieg der Betrag auf das Doppelte. Heute ist die Erstauflage, falls überhaupt erhältlich, ein kostspieliges Sammlerstück und begehrtes Kultobjekt.