Eine kleine Kostprobe aus unserer Ausstellung Das Tier in Dir – Kreaturen in (und außerhalb) der mumok Sammlung.
Helen Chadwick
Glossolalia
1993
Glossolalie, Zungenreden, bedeutet der Titel: das unverständliche, ekstatische Sprechen in einer Trance oder im Gebet, das eine besondere Verbindung zum Göttlichen bezeugen soll. In Helen Chadwicks Objekt sind die vielen Zungen erst auf den zweiten Blick erkennbar: Zu einem Turm aufgehäuft, ragen sie in dessen Mitte empor. Chadwick hat Zungen von Tieren aus dem Schlachthof genommen und in Bronze abgegossen. Dieser seltsam morbide Turm erinnert an den Turmbau zu Babel und damit an die biblische Vorstellung einer Zeit, in der alle Menschen sich in einer gemeinsamen Sprache verständigen konnten, bis Gott ihre Sprache verwirrte. Das Auseinanderbrechen von Gemeinschaft durch verschiedene Sprachen kann in Chadwicks Arbeit unterschiedlich verstanden werden.
Die Anhäufung von Zungen erinnert an einen Turm aus abgetrennten Penissen, die sich zu einer neuen Lebensform zusammengefunden haben – einem großen, gleichfalls phallischen Wesen. Erotik und sexuelles Begehren deuten auch die Fuchsschwänze an, die in Form einer Blüte um die tierischen Überbleibsel drapiert sind. Auch sie sind Körperfragmente und das Ergebnis einer Tötung. Ihnen haftet allerdings etwas weniger Brutales an, der weiche, kuschelige Pelz lädt vielmehr zum Berühren ein: Pelz ist seit jeher sexuell und sinnlich aufgeladen.
Wie könnte man sich den Umgang mit einem solchen Werk vorstellen? In dem man das macht, was heute aus konservatorischen Gründen verboten ist? Besucher*innen, die um den runden Tisch herumstehen, Felle streicheln und sich dabei über den Bronzephallus hinweg gegenseitig betrachten? Eine sinnliche Erfahrung vor dem Hereinbrechen einer ordnenden Macht mit strengen Regularien?